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Der Abfindungsvergleich

Risikoanalyse: Der Abfindungsvergleich bei Personengroßschäden – Eine Warnung vor der „Millionen-Illusion“ und systemischen Fallstricken

1. Einleitung: Die trügerische Verlockung der großen Zahl

Hier muss argumentativ ausgeholt werden:

In der spezialisierten Rechtspraxis der Regulierung von Personengroßschäden manifestiert sich ein besorgniserregendes Phänomen, das für die betroffenen Mandanten existenzielle Risiken birgt. Es handelt sich um die Diskrepanz zwischen der subjektiv empfundenen Großzügigkeit einer einmaligen Kapitalabfindung und der objektiven, versicherungsmathematischen Realität des lebenslangen Schadensbedarfs. Mandanten, die durch schwerste Schicksalsschläge – sei es durch Verkehrsunfälle, ärztliche Behandlungsfehler oder Geburtskomplikationen – aus ihrem bisherigen Lebensentwurf gerissen wurden, sehen sich oft nach jahrelangen zermürbenden Auseinandersetzungen einem Angebot der gegnerischen Haftpflichtversicherung gegenüber. Dieses Angebot, häufig pauschal auf eine runde Summe wie eine Million Euro beziffert, entfaltet eine enorme psychologische Sogwirkung. Es verspricht nicht nur finanzielle Unabhängigkeit, sondern vor allem einen emotionalen Abschluss, den sogenannten „Rechtsfrieden“.

Doch aus der Perspektive des spezialisierten Anwalts für Personenschäden muss hier eine drastische Warnung ausgesprochen werden. Was auf den ersten Blick wie ein Lottogewinn anmutet, entpuppt sich bei nüchterner Analyse der Kapitalmärkte, der Inflationsentwicklung und der Pflegekostenexplosion oft als ein Geschäft zu Lasten des Geschädigten. Die Versicherungswirtschaft agiert hier nicht als Wohlfahrtsinstitution, sondern als profitmaximierender Akteur, der versucht, unkalkulierbare Langlebigkeits- und Kostenrisiken gegen eine festgeschriebene, diskontierte Einmalzahlung loszuwerden. Die bittere Wahrheit lautet in vielen Fällen: Die Versicherung gewinnt immer, wenn der Geschädigte die komplexe Mathematik seines eigenen Überlebens nicht im Detail durchdringt.

Dieser Bericht, erstellt für die Kanzlei von Boehn, dient der schonungslosen Aufklärung über die Mechanismen dieses ungleichen Tauschs. Er analysiert nicht nur die ökonomischen Fallstricke der Kapitalisierung, sondern übt auch fundamentale Kritik an einer Justizpraxis, die den Vergleich oft nicht als Instrument der Gerechtigkeit, sondern als Mittel der Arbeitsvermeidung missbraucht. Die Warnung vor dem „schnellen Geld“ ist dabei kein Ausdruck anwaltlicher Bremsermentalität, sondern das Resultat jahrzehntelanger Beobachtung von Schicksalen, die Jahre nach einem vermeintlich lukrativen Vergleich in die Sozialhilfebedürftigkeit abrutschten, weil die Million längst von der Inflation und den Pflegekosten aufgefressen wurde.

2. Phänomenologie des Personengroßschadens

Um die Gefährlichkeit eines pauschalen Abfindungsvergleichs zu verstehen, ist es unerlässlich, die Dimension dessen zu begreifen, was juristisch und ökonomisch unter einem „Personengroßschaden“ subsumiert wird. Wir bewegen uns in dieser Kategorie weit jenseits von einfachen Knochenbrüchen oder vorübergehenden Erwerbsminderungen. Ein Personengroßschaden definiert sich durch eine irreversible Zäsur in der Biografie des Geschädigten, die eine lebenslange Kompensation in nahezu allen Lebensbereichen erforderlich macht.

2.1 Die Anatomie der Katastrophe

Typische Verletzungsbilder, die in diese Kategorie fallen, umfassen hohe Querschnittslähmungen (Tetraplegie), oft verbunden mit einer dauerhaften Beatmungspflicht, schwerste Schädel-Hirn-Traumata (SHT) mit bleibenden kognitiven Defiziten oder Wachkoma-Zuständen, sowie hypoxische Hirnschäden bei Neugeborenen. Allen diesen Fällen ist gemein, dass der Geschädigte seine Autonomie verliert und auf permanente externe Hilfe angewiesen ist. Die ökonomische Dimension eines solchen Schadens wird von Laien regelmäßig dramatisch unterschätzt. Während die mediale Berichterstattung oft den Fokus auf spektakuläre Schmerzensgeldsummen legt, machen diese immateriellen Schadenspositionen im Gesamtvolumen eines Großschadens oft nur einen Bruchteil aus. Die wahren Kostentreiber sind die materiellen Schäden, die sich über Jahrzehnte akkumulieren.

Ein 20-jähriger Geschädigter, der durch einen Unfall eine hohe Querschnittslähmung erleidet, hat statistisch gesehen noch eine Lebenserwartung von weiteren 60 Jahren. In dieser Zeit muss nicht nur sein entgangenes Erwerbseinkommen ersetzt werden, das er als gesunder Mensch erzielt hätte, sondern vor allem die Kosten für seine Pflege und Betreuung gedeckt werden. Die Summe dieser laufenden Kosten übersteigt die Vorstellungskraft der meisten Menschen. Ein monatlicher Gesamtbedarf von 15.000 bis 25.000 Euro ist bei intensivfpflegebedürftigen Patienten keine Seltenheit. Hochgerechnet auf eine verbleibende Lebenszeit von mehreren Jahrzehnten ergeben sich hieraus mathematisch zwingend Schadenssummen im zweistelligen Millionenbereich.

2.2 Die Struktur der Schadensposten

Der Erwerbsschaden bildet oft die Basis der Berechnung, ist jedoch bei schwersten Verletzungen nicht der dominante Faktor. Dennoch summiert sich der Verlust der Arbeitskraft über ein Erwerbsleben massiv. Ein junger Ingenieur oder eine Führungskraft, die aufgrund des Unfalls ihre Karriere nicht antreten oder fortsetzen kann, verliert nicht nur das aktuelle Netto-Gehalt, sondern auch sämtliche zukünftigen Gehaltssteigerungen, Beförderungen und die entsprechenden Rentenansprüche. Bei einem dynamisierten Jahresbruttoeinkommen von 60.000 Euro summiert sich dieser Posten über 40 Berufsjahre bereits auf nominell 2,4 Millionen Euro – ohne Berücksichtigung von Karriereentwicklungen und Inflation.1

Der weitaus kritischere Posten ist der Pflege- und Betreuungsaufwand. Hier explodieren die Kosten aufgrund der demografischen Entwicklung und regulatorischer Eingriffe wie dem Pflegemindestlohn. Eine qualifizierte 24-Stunden-Pflege im häuslichen Umfeld, die dem Geschädigten ein menschenwürdiges Leben außerhalb eines Heimes ermöglicht, erfordert den Einsatz eines Teams von Pflegekräften im Schichtsystem. Deutsche Pflegedienste rufen hierfür monatliche Beträge auf, die zwischen 20.000 und 30.000 Euro liegen können.3 Selbst „günstigere“ Modelle, die oft in einer rechtlichen Grauzone operieren, wie die Beschäftigung osteuropäischer Kräfte, sind bei intensivmedizinischer Indikation (z.B. Beatmung, Absaugbereitschaft) faktisch ausgeschlossen oder mit enormen Haftungsrisiken verbunden.4

Hinzu kommt der Haushaltsführungsschaden. Die Arbeitskraft, die der Verletzte nicht mehr in seinen eigenen Haushalt oder zur Versorgung seiner Familie einbringen kann, stellt einen ersatzfähigen Vermögensschaden dar. Auch hier summieren sich monatliche Beträge von 500 bis 1.500 Euro über die Jahre zu sechsstelligen Summen.2 Nicht zu vergessen sind die Kosten für den sogenannten vermehrten Bedarf: Rollstuhlgerechter Wohnraum, behindertengerechte Kraftfahrzeuge, spezielle Therapien, die von den gesetzlichen Kassen nicht übernommen werden, sowie Begleitpersonen für Urlaube und Freizeitaktivitäten. All diese Posten bilden zusammen ein riesiges finanzielles Volumen, das durch eine pauschale Abfindungssumme von einer Million Euro bei weitem nicht gedeckt wird.

3. Die Ökonomie der Versicherungswirtschaft: Das Kalkül hinter dem Angebot

Es ist ein offenes Geheimnis in der Branche der Schadensregulierung, dass Versicherer Abfindungsvergleiche nicht aus altruistischen Motiven anbieten. Das Narrativ, man wolle dem Geschädigten „Ruhe“ und einen „Neustart“ ermöglichen, ist oft nur die vertriebliche Verpackung für eine knallharte Bilanzoptimierung. Versicherungsunternehmen sind Wirtschaftsunternehmen, deren Primärziel die Minimierung von Auszahlungen und die Reduzierung von Rückstellungen ist.

3.1 Risikotransfer als Geschäftsmodell

Bei der Regulierung eines Personengroßschadens über eine laufende Geldrente gemäß § 843 BGB verbleiben sämtliche wesentlichen Risiken beim Versicherer. Das Langlebigkeitsrisiko bedeutet, dass der Versicherer zahlen muss, solange der Geschädigte lebt – auch wenn dieser dank medizinischen Fortschritts 90 oder 100 Jahre alt wird. Das Inflations- und Kostensteigerungsrisiko zwingt den Versicherer, die Rente anzupassen, wenn die Pflegekosten oder Lebenshaltungskosten steigen (§ 323 ZPO). Das Verschlechterungsrisiko beinhaltet die Pflicht, auch für spät auftretende Folgen des Unfalls, wie etwa eine posttraumatische Epilepsie oder Nierenversagen nach jahrelanger Medikamenteneinnahme, einzustehen.

Mit dem Abschluss eines Abfindungsvergleichs kauft sich der Versicherer von all diesen Risiken frei. Er überträgt das Risiko, dass das Geld nicht bis zum Lebensende reicht, vollständig auf den Geschädigten. Stirbt der Geschädigte kurz nach Auszahlung der Abfindungssumme, hat der Versicherer zwar „zu viel“ gezahlt (aus seiner Ex-post-Sicht), doch statistisch gesehen ist dies für die Versicherungswirtschaft das geringere Übel im Vergleich zu einem Geschädigten, der 40 Jahre lang Pflegekosten verursacht, die jährlich um 5% steigen. Die Versicherung wettet beim Abfindungsvergleich gegen die Lebensdauer und die Leidensfähigkeit des Geschädigten. Da Versicherer über riesige Datenmengen und spezialisierte Aktuare verfügen, gewinnen sie diese Wette statistisch fast immer.

3.2 Die Bilanzkosmetik der „Schwarzen Null“

Ein weiterer Treiber für das Drängen auf Abfindungen ist die interne Bilanzierungspraxis der Versicherer. Für jeden offenen Personengroßschaden muss der Versicherer hohe Rückstellungen (Reserven) in seiner Bilanz bilden. Diese Rückstellungen binden Eigenkapital und belasten die Solvabilitätskennziffern (Solvency II). Ein „offener Schaden“ verursacht zudem über Jahrzehnte hinweg Verwaltungskosten: Rechnungen müssen geprüft, Gutachten eingeholt, Sachbearbeiter bezahlt werden. Ein Abfindungsvergleich ermöglicht es der Schadensabteilung, die Akte endgültig zu schließen. Die Rückstellung kann aufgelöst werden, was oft zu einem buchhalterischen Gewinn führt, wenn die Abfindungssumme niedriger ist als die gebildete Reserve. Dieser interne „Erledigungsdruck“ führt dazu, dass Sachbearbeiter und Abteilungsleiter incentiviert sind, „alte Fälle“ durch Vergleiche vom Tisch zu bekommen.

3.3 Die mathematische Asymmetrie

Die Diskrepanz zwischen Angebot und realem Bedarf lässt sich mathematisch klar belegen. Nehmen wir das Beispiel eines Schwerstgeschädigten mit einem monatlichen Bedarf von 5.000 Euro und einer Laufzeit von 40 Jahren. Ohne jegliche Zinsen und Inflation beträgt die Nominalsumme 2,4 Millionen Euro. Unter Berücksichtigung einer Pflegekosteninflation von nur 3% p.a. steigt der Kapitalbedarf jedoch auf über 4,5 Millionen Euro an. Bietet der Versicherer nun 1 Million Euro an, so entspricht dies oft weniger als 25% des realen Kapitalbedarfs. Der Versicherer argumentiert dabei mit Diskontierungsfaktoren (Abzinsung), die unterstellen, dass der Geschädigte das Kapital am Markt gewinnbringend anlegen kann. Doch in Zeiten volatiler Märkte und realer Negativzinsen ist diese Annahme reine Fiktion, die lediglich dazu dient, die Abfindungssumme klein zu rechnen.6

4. Systemkritik: Die Rolle der Justiz und der „Erledigungsdruck“

Es wäre zu kurz gegriffen, die Problematik allein auf die Profitgier der Versicherungswirtschaft zu reduzieren. Ein wesentlicher Faktor, der Geschädigte in nachteilige Vergleiche treibt, ist das Verhalten der staatlichen Justiz. Anstatt als Wächter des Rechts und Schutzpatron der schwächeren Partei zu agieren, lassen sich Richter zunehmend von einem systemischen Erledigungsdruck leiten, der die Verfahrensökonomie über die materielle Gerechtigkeit stellt.

4.1 Der Richter als Vergleichsmanager

Die Zivilprozessordnung (ZPO) sieht in § 278 Abs. 1 vor, dass das Gericht in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits hinwirken soll. Was als Instrument zur Förderung des Rechtsfriedens gedacht war, ist in der Praxis oft zu einem Werkzeug der Arbeitsvermeidung pervertiert worden. Richter an Landgerichten und Oberlandesgerichten leiden unter einer hohen Arbeitsbelastung. Ein streitiges Urteil in einem Personengroßschadensprozess zu schreiben, ist eine der aufwendigsten richterlichen Tätigkeiten überhaupt. Es erfordert die Auseinandersetzung mit komplexen medizinischen Gutachten, die Berechnung von Erwerbsschäden unter Berücksichtigung hypothetischer Karriereverläufe und die Anwendung komplizierter versicherungsmathematischer Formeln. Ein solches Urteil kann einen Richter mehrere Arbeitstage oder Wochen kosten. Ein Vergleich hingegen wird im Termin protokolliert und die Akte ist erledigt. Für die Statistik des Richters, die maßgeblich für seine Beförderungschancen ist, zählt der Vergleich als „Erledigung“ genauso viel wie ein mühsames Urteil.8

4.2 Die Strategie der „Arbeitsvermeidung“

Kritische Stimmen aus der Anwaltschaft und der Rechtswissenschaft werfen Teilen der Justiz eine „Strategie der Arbeitsvermeidung“ vor.10 Diese äußert sich darin, dass Richter den Parteien in der mündlichen Verhandlung massive „Prozessrisiken“ suggerieren, um sie vergleichsbereit zu machen. Dem Geschädigten wird signalisiert, dass das Einholen weiterer Gutachten Jahre dauern könnte und der Ausgang ungewiss sei. Oft schlagen Richter Vergleichssummen vor, die mathematisch nicht hergeleitet sind, sondern schlicht den Mittelwert zwischen dem Angebot der Versicherung und der Forderung des Klägers darstellen (die sogenannte „Basar-Methode“). Für den Geschädigten, der dem Richter als neutraler Autorität vertraut, ist dieser Druck kaum zu widerstehen. Wenn der Richter sagt: „Nehmen Sie die 800.000 Euro, das ist sicher, alles andere steht in den Sternen“, knicken viele Kläger ein, ohne zu realisieren, dass der Richter hier primär seine eigene Arbeitslast reduziert.11

4.3 Die Waffe Prozesskostenhilfe (PKH)

Ein besonders problematisches Instrument in diesem Kontext ist die Prozesskostenhilfe (PKH). Da Personengroßschäden oft Menschen treffen, die durch den Unfall ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage verloren haben, sind viele Kläger auf staatliche Prozessfinanzierung angewiesen. Die Gewährung von PKH setzt jedoch voraus, dass die Rechtsverfolgung „hinreichende Aussicht auf Erfolg“ hat (§ 114 ZPO). Es ist eine in der Anwaltspraxis bekannte Strategie mancher Gerichte, PKH-Anträge mit überzogenen Anforderungen an die Darlegungslast abzulehnen oder die Entscheidung darüber monatelang hinauszuzögern.13 Damit wird dem mittellosen Geschädigten signalisiert: „Vergleich dich jetzt, oder wir machen dir den Weg zum Urteil finanziell unmöglich.“ Die Ablehnung der PKH wirkt hier wie eine faktische Rechtsverweigerung, die den Kläger in die Arme der Versicherung treibt, die mit dem Scheckbuch wedelt.

4.4 Warnung vor dem „Flurvergleich“

Eine spezielle Ausprägung dieses Drucks ist der sogenannte „Flurvergleich“. Hierbei werden in Verhandlungspausen auf dem Gerichtsflur oder im Richterzimmer unter enormem Zeitdruck komplexe Einigungen erzielt. Anwälte und Parteien stehen buchstäblich zwischen Tür und Angel, während der Richter drängt: „Die Kammer würde diesen Betrag für angemessen halten, überlegen Sie es sich bis zum Aufruf in 10 Minuten.“ In dieser Atmosphäre ist eine rationale Prüfung der steuerlichen, sozialversicherungsrechtlichen und versicherungsmathematischen Folgen einer Millionenabfindung unmöglich. Dennoch werden solche Vergleiche oft protokolliert – mit fatalen Folgen. Denn ein vor Gericht geschlossener Vergleich ist bindend und beendet den Prozess sofort (§ 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).

Rechtsanwalt von Boehn warnt eindringlich vor dieser Praxis. Ein Kardinalfehler, der hierbei oft begangen wird, ist das Vergessen einer Widerrufsfrist. Anders als bei Haustürgeschäften gibt es beim Prozessvergleich kein automatisches gesetzliches Widerrufsrecht. Wenn nicht ausdrücklich im Protokoll vermerkt wird, dass der Vergleich „widerruflich bis zum“ geschlossen wird, ist die Unterschrift endgültig.15 Der Mandant kommt nach Hause, rechnet nach, stellt fest, dass das Geld nicht reicht – und sitzt in der Falle. Ein Anwalt, der einen solchen Vergleich ohne Widerrufsfrist bei einem Großschaden abschließt, handelt grob fahrlässig.

5. Mathematische Tiefenanalyse: Die Falle der Kapitalisierung

Der Kernmechanismus, mit dem Versicherer Schadensersatzansprüche kleinrechnen, ist die Kapitalisierung. Dabei wird eine lebenslange Rente in einen Einmalbetrag umgerechnet. Die Wahl der Parameter bestimmt hier über Millionen.

5.1 Kapitalisierungstabellen und Zinsfüße

Zur Umrechnung werden Kapitalisierungstabellen verwendet, wie sie etwa in den Standardwerken von Küppersbusch/Höher oder Quirmbach veröffentlicht werden.17 Diese Tabellen weisen für jedes Lebensalter einen Kapitalisierungsfaktor aus. Ein Faktor von 20 bedeutet beispielsweise, dass für eine Jahresrente von 10.000 Euro eine Abfindung von 200.000 Euro gezahlt wird. Das entscheidende Element in diesen Tabellen ist der Rechnungszins.

Traditionell basieren viele Tabellen und die Rechtsprechung auf einem Rechnungszins von 4% oder gar 5%. Die Logik dahinter stammt aus Zeiten, in denen man für festverzinsliche Wertpapiere risikolos hohe Zinsen erhielt. Die Annahme ist: Der Geschädigte legt die Abfindung an, entnimmt monatlich seine „Rente“ und verzinst den Restbetrag. Durch den Zinseszinseffekt soll das Kapital so lange reichen wie die Rente.

In der Realität der letzten Jahre, geprägt von Niedrig- und Nullzinsen, ist diese Annahme jedoch eine gefährliche Fiktion. Wer heute mit 4% abzinst, unterstellt, dass der Geschädigte am Kapitalmarkt sicher 4% Rendite nach Inflation erwirtschaften kann. Gelingt ihm das nicht, ist das Kapital vorzeitig aufgezehrt.

5.2 Realzins vs. Nominalzins

Der entscheidende Fehler in vielen Berechnungen ist die Verwechslung von Nominal- und Realzins. Selbst wenn man heute wieder 3% Zinsen auf Festgeld bekommt, hilft das nicht, wenn die Inflation (insbesondere im Pflegebereich) bei 4% oder 5% liegt. Der Realzins (Nominalzins minus Inflation) ist in diesem Fall negativ. Ein negativer Realzins würde mathematisch bedeuten, dass die Abfindungssumme höher sein müsste als die bloße Summe der Jahresbeträge, um die Kaufkraftverluste auszugleichen. Versicherer rechnen jedoch fast immer mit positiven Zinsfüßen, was die Abfindungssumme drastisch reduziert.6

Ein Rechenbeispiel verdeutlicht die Brisanz: Ein 30-Jähriger benötigt eine monatliche Rente von 3.000 Euro für 50 Jahre.

  • Nominalsumme (ohne Zins/Inflation): 1.800.000 Euro.
  • Kapitalwert bei 4% Zins: ca. 770.000 Euro.Durch die Anwendung des 4%-Zinsfaktors „spart“ der Versicherer über eine Million Euro. Er argumentiert, der Geschädigte könne die 770.000 Euro so anlegen, dass sie durch Zinsen auf 1,8 Millionen anwachsen. In einer Welt ohne sichere Zinsen ist das jedoch Spekulation auf Kosten der Existenzsicherheit des Geschädigten.19

5.3 Das Langlebigkeitsrisiko

Ein weiterer Fallstrick ist die zugrunde gelegte Sterbetafel. Versicherer nutzen oft selektive Daten oder argumentieren, dass Schwerstbehinderte eine statistisch verkürzte Lebenserwartung hätten, um die Laufzeit der Rente und damit die Abfindungshöhe weiter zu drücken. Medizinische Studien zeigen jedoch, dass bei guter Pflege die Lebenserwartung von Querschnittsgelähmten sich der Normalbevölkerung annähert. Ein Abfindungsvergleich friert die Lebenserwartung auf dem Stand des Vergleichsabschlusses ein. Lebt der Geschädigte länger als die statistische Prognose (was wir jedem wünschen), steht er in den letzten, oft teuersten Lebensjahren ohne Mittel da. Das Risiko der Langlebigkeit, das bei einer Rente der Versicherer trägt, wird beim Vergleich voll auf den Geschädigten abgewälzt.7

Die folgende Tabelle illustriert die dramatischen Unterschiede in der Bewertung, je nachdem, welche Parameter angesetzt werden:

ParameterVersicherungskalkulation (Abfindung)Realistischer Bedarf (Rente/Sicherheit)
Monatlicher Bedarf5.000 € (eingefroren)5.000 € (steigend mit Inflation)
LaufzeitStatistische Lebenserwartung (verkürzt)Tatsächliche Lebensdauer (Open End)
Rechnungszins3,5% – 5% (optimistisch)0% – 1% (konservativ/realistisch)
InflationsausgleichKeiner / Pauschal abgegoltenDynamische Anpassung (§ 323 ZPO)
Ergebnis (Kapitalwert)ca. 1.000.000 €ca. 4.000.000 – 6.000.000 €
RisikoLiegt beim GeschädigtenLiegt beim Versicherer

6. Die Kostenexplosion in der Pflege

Die größte Unbekannte und zugleich das größte finanzielle Risiko bei Personengroßschäden ist die Entwicklung der Pflegekosten. Hier zeigt sich die ganze Brutalität der „Millionen-Illusion“. Wer glaubt, mit einer Million Euro die Pflege für ein ganzes Leben eingekauft zu haben, wird von der Realität des Pflegemarktes überrollt.

6.1 Die Realität der 24-Stunden-Pflege

Für schwerstgeschädigte Menschen ist die außerklinische Intensivpflege oft die einzige Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Dies erfordert jedoch spezialisiertes Personal rund um die Uhr. Die Kosten hierfür sind in den letzten Jahren explodiert. Während man vor einem Jahrzehnt noch mit Stundensätzen von 25 Euro kalkulieren konnte, fordern Pflegedienste im Jahr 2025 Stundensätze, die oft zwischen 35 und 45 Euro liegen. Ein Monat hat im Durchschnitt 730 Stunden. Multipliziert man dies mit einem Stundensatz von 40 Euro, ergeben sich monatliche Kosten von 29.200 Euro. Selbst wenn die Krankenkasse und Pflegekasse den Löwenanteil übernehmen, verbleiben oft erhebliche Deckungslücken für Investitionskosten, Unterkunft und Verpflegung der Pflegekräfte oder für Leistungen, die über das rein Medizinische hinausgehen (Grundpflege, hauswirtschaftliche Versorgung).21

6.2 Der Pflegemindestlohn und die Dynamik

Der Gesetzgeber hat mit der Einführung und stetigen Erhöhung des Pflegemindestlohns (Zielmarke Richtung 20 Euro und mehr) politisch gewollte Kostensteigerungen ausgelöst.23 Diese sind gesellschaftlich wünschenswert, für den Budgetverantwortlichen eines Schwerstgeschädigten aber ruinös, wenn sie nicht in der Abfindung einkalkuliert wurden. Die „medizinische Inflation“ liegt traditionell deutlich über der allgemeinen Verbraucherpreisinflation. Ein Abfindungsvergleich, der auf den Pflegekosten von 2024 basiert, ist im Jahr 2035 das Papier nicht mehr wert, auf dem er steht. Die Kosten werden sich in 15 bis 20 Jahren voraussichtlich verdoppelt haben. Eine Rente würde angepasst werden; eine Abfindung ist fix.

6.3 Die Alternativfalle: Heimunterbringung

Versicherer versuchen oft, die Schadenssumme zu drücken, indem sie auf die Kosten einer stationären Heimunterbringung verweisen, die mit Eigenanteilen von 2.000 bis 4.000 Euro deutlich günstiger ist als die häusliche 1:1-Versorgung.24 Juristisch ist dies zwar oft angreifbar, da der Geschädigte ein Wahlrecht hat, doch im Rahmen von Vergleichsgesprächen wird massiver Druck ausgeübt („Wir zahlen nur die Heimkosten, wenn Sie mehr wollen, müssen Sie klagen“). Lässt sich der Geschädigte auf eine Abfindungssumme ein, die eher am Heimkostenniveau orientiert ist, beraubt er sich faktisch seiner Freiheit. Er wird sich die häusliche Pflege schlicht nicht mehr leisten können und muss zwangsläufig ins Pflegeheim ziehen – ein massiver Verlust an Lebensqualität, den er für ein „schnelles Geld“ eingetauscht hat.

7. Steuerliche und sozialrechtliche Fallen

Ein Aspekt, der bei der Faszination für die große Zahl oft übersehen wird, ist der Zugriff des Staates. Schmerzensgeld ist zwar steuerfrei, doch der Teil der Abfindung, der den entgangenen Verdienst und zukünftige Erwerbsschäden abdeckt, unterliegt der Einkommensteuer. Wird der Verdienstausfall für 20 Jahre in einer Summe ausgezahlt, greift die Steuerprogression gnadenlos zu. Zwar gibt es die Möglichkeit der „Fünftelregelung“ (§ 34 EStG) zur Abmilderung, doch führt die Zusammenballung von Einkünften fast immer zu einer höheren Steuerlast als bei laufender Zahlung. Von der Brutto-Abfindung bleibt netto oft deutlich weniger übrig, als in den schönen Excel-Tabellen der Versicherer ausgewiesen wird.17

Noch gefährlicher ist der Regress der Sozialversicherungsträger. Krankenkassen, Rentenversicherung und Berufsgenossenschaften haben oft immense Vorleistungen erbracht (Behandlungskosten, Reha, Verletztengeld). Sie haben einen gesetzlichen Anspruch darauf, dass diese Kosten vom Schädiger (Versicherer) erstattet werden (§ 116 SGB X). Beim Abschluss eines Abfindungsvergleichs muss peinlich genau darauf geachtet werden, dass diese Ansprüche nicht versehentlich mit der Abfindungssumme verrechnet werden oder dass der Geschädigte sich verpflichtet, die Sozialträger selbst zu befriedigen (Freistellungsklauseln). Hier droht die Gefahr, dass der Mandant die Million kassiert und kurz darauf Forderungsbescheide der Krankenkasse erhält, die einen Großteil der Summe wieder abschöpfen.6

8. Die Position der Kanzlei von Boehn: Strategische Skepsis und Aufklärung

Vor dem Hintergrund dieser massiven Risiken vertritt Rechtsanwalt Bernhard von Boehn eine klare Linie: Sicherheit geht vor Schnelligkeit. Die Kanzlei rät in der überwiegenden Zahl der Fälle von pauschalen Abfindungsvergleichen bei Personengroßschäden ab. Die laufende Rente ist zwar „unsexy“, weil sie keine großen Anschaffungen ermöglicht, aber sie ist das einzige Instrument, das die Risiken der Langlebigkeit und Inflation verlässlich beim Versicherer belässt.

Dennoch gibt es Mandanten, die aus nachvollziehbaren Gründen (Wunsch nach Immobilienkauf, psychische Belastung durch den Dauerkonflikt mit der Versicherung, „Rentenneurose“) eine Abfindung wünschen. In diesen Fällen wendet die Kanzlei die Strategie des „Abfindungspokers“ an, transferiert aus dem Arbeitsrecht auf das Schadensrecht.27

Dies bedeutet:

  1. Keine Flurvergleiche: Verhandlungen werden niemals unter Zeitdruck geführt. Jedes Angebot wird mitgenommen und in Ruhe geprüft.
  2. Intensivste Aufklärung: Der Mandant muss verstehen, dass er eine Wette gegen sein eigenes Leben eingeht. Die Aufklärung wird dokumentiert, um sicherzustellen, dass keine Missverständnisse über die Reichweite des Verzichts (Generalquittung) bestehen.28
  3. Realistische Berechnung: Die Kanzlei akzeptiert nicht die Tabellen der Versicherer. Es werden eigene Berechnungen angestellt, die von realistischen (niedrigen) Zinsen ausgehen und Steuer- sowie Sozialversicherungsnachteile durch Aufschläge kompensieren („Brutto-Aufschlag“).
  4. Vorbehalte sichern: Wo immer möglich, wird versucht, trotz Abfindung bestimmte Risiken auszuklammern (z.B. Vorbehalt für den Fall, dass zukünftig eine Dialysepflicht eintritt oder die Pflegekosten durch Gesetzesänderungen explodieren).
  5. Widerrufsrecht: Kein Vergleich ohne Widerrufsfrist. Die Zeit muss genutzt werden, um Steuerberater und ggf. Versicherungsmathematiker hinzuzuziehen.

9. Fazit: Ein Appell zur Wachsamkeit

Der Abfindungsvergleich bei Personengroßschäden ist ein zweischneidiges Schwert, bei dem die scharfe Seite meist zum Geschädigten zeigt. Versicherer nutzen ihre Informationsüberlegenheit und ihre Finanzkraft, um sich günstig von ihren teuersten Risiken zu trennen. Richter, getrieben von Arbeitslast und Statistikdruck, assistieren dabei oft ungewollt, indem sie schnelle Lösungen forcieren und die fatale Mathematik der Kapitalisierung unhinterfragt übernehmen. Ganz zu Schweigen von Anwälten die auf den Schnellen Euro hoffen durch Vergleich. Die Versicherer versprechen dem Anwalt häufig, dass er bei den Rechtsanwaltskosten großzügig ist, der Anwalt als Profiteur des Vergleichs.

Mandanten müssen sich darüber im Klaren sein: Wer eine Million Euro akzeptiert, wenn der Schaden eigentlich zehn Millionen beträgt, lässt sich nicht „großzügig entschädigen“, sondern faktisch enteignen. Die Kanzlei von Boehn steht dafür ein, diese Mechanismen transparent zu machen und – wenn eine Abfindung unumgänglich ist – zumindest faire Konditionen zu erkämpfen, die nicht auf der Illusion von 4% Zinsen und ewiger Gesundheit basieren.

Lassen Sie sich nicht von der großen Zahl blenden. Ihre Zukunft ist mehr wert als eine schnelle Antwort auf dem Gerichtsflur