BGH zur Abgrenzung von Vorschäden und Neuschäden
Beschluss vom 06.06.2023 – VI ZR 197/21
Kernaussage: Der BGH hat die Position von Unfallopfern erheblich gestärkt. Die Anforderungen an die Darlegungslast bei Vorschäden dürfen nicht überspannt werden. § 287 ZPO erleichtert dem Geschädigten nicht nur die Beweisführung, sondern bereits die Darlegung.
Ausgangslage: Das Problem der Vorschadenproblematik
In der Praxis der Unfallschadensregulierung nutzen Haftpflichtversicherer den Einwand von Vorschäden häufig als Standardargument, um Schadensersatzansprüche abzuwehren oder zu kürzen. Besonders bei Gebrauchtfahrzeugen, die vor der Besitzzeit des aktuellen Halters Schäden erlitten haben könnten, führte dies zu erheblichen Beweisschwierigkeiten für Geschädigte.
Der Bundesgerichtshof hat mit seinem Beschluss vom 06.06.2023 dieser Praxis deutliche Grenzen gesetzt und klargestellt, dass die Substantiierungsanforderungen an den Geschädigten nicht überspannt werden dürfen.
Die Kernaussagen des BGH (VI ZR 197/21)
Die wichtigsten Grundsätze im Überblick
- Erleichterte Darlegungslast: § 287 ZPO erleichtert dem Geschädigten nicht nur die Beweisführung, sondern bereits die Darlegung zur Schadenshöhe.
- Kein Privatgutachten erforderlich: Der Geschädigte muss weder ein Privatgutachten vorlegen noch ein vorgelegtes Gutachten ergänzen.
- Abgrenzung durch Sachverständigen: Die Klärung kann durch einen gerichtlich bestellten Sachverständigen erfolgen.
- Mindestschaden feststellbar: Soweit möglich, ist zumindest ein Mindestschaden festzustellen und zu ersetzen.
Vorschäden außerhalb der Besitzzeit
Für Vorschäden, die vor dem Erwerb des Fahrzeugs durch den Geschädigten entstanden sind und von denen dieser keine Kenntnis hat, gelten nach dem BGH deutlich reduzierte Substantiierungsanforderungen. Der Geschädigte muss in solchen Fällen keine detaillierten Angaben zu den Vorschäden machen können.
Es genügt, wenn ein gerichtlich bestellter Sachverständiger feststellen kann, welche Schäden auf den aktuellen Unfall zurückzuführen sind und welche nicht. Die Abgrenzung oder Abgrenzbarkeit ist keine Frage der Darlegung, sondern ein Gesichtspunkt der Beweiserhebung und richterlichen Überzeugungsbildung.
Vorschäden innerhalb der Besitzzeit
Bei bekannten Vorschäden, die während der Besitzzeit des Geschädigten entstanden sind, muss der Geschädigte zwar darlegen, ob und wie diese repariert wurden. Der BGH hat jedoch auch hier klargestellt: Es genügt die Behauptung einer fachgerechten Reparatur unter Zeugenbeweis. Ein dokumentierter Reparaturnachweis einer Fachwerkstatt ist nicht zwingend erforderlich.
Die Rolle des § 287 ZPO
Dem Geschädigten wird durch § 287 ZPO nicht nur die Beweisführung, sondern bereits die Darlegung erleichtert. Der Geschädigte kann durch einen gerichtlich bestellten Sachverständigen aufklären lassen, in welcher geringeren als von ihm ursprünglich geltend gemachten Höhe Reparaturkosten anfallen.
– BGH, Beschluss vom 06.06.2023, VI ZR 197/21, Rn. 13
Die Rechtsprechung des OLG Celle: Strenge Linie durch BGH korrigiert
Das Oberlandesgericht Celle, insbesondere der 14. Zivilsenat, hat in der Vergangenheit eine besonders strenge Linie bei der Vorschadenproblematik vertreten. Diese Rechtsprechung ist durch die BGH-Entscheidungen von 2019 und 2023 in wesentlichen Teilen überholt.
Die frühere strenge Linie des OLG Celle (überholt)
- OLG Celle, 08.02.2017 (14 U 119/16): Der Geschädigte müsse die konkret beschädigten Fahrzeugteile, die Art ihrer Beschädigung, die einzelnen Reparaturschritte und die tatsächlich vorgenommenen Reparaturarbeiten schlüssig darlegen. Selbst die Vorlage von Rechnungen genüge allein der Darlegungslast nicht.
- OLG Celle, 12.04.2017 (14 U 40/17): Ohne detaillierte Angaben zur Abgrenzung könne der Geschädigte insgesamt keinen Schadensersatz verlangen – auch nicht für Schäden, die grundsätzlich mit dem Unfallgeschehen vereinbar wären.
- OLG Celle, 20.09.2018 (14 U 124/18): Der Geschädigte sei verpflichtet, die Vorschäden im Einzelnen darzulegen, einschließlich der konkret beschädigten Fahrzeugteile. Auch bei reparierten Vorschäden träfen ihn besondere Darlegungs- und Beweispflichten nach dem Maßstab des § 286 ZPO (nicht § 287 ZPO!).
Warum diese Rechtsprechung überholt ist
1. BGH vom 15.10.2019 (VI ZR 377/18) – Maserati-Entscheidung: Der BGH hob eine Entscheidung des OLG Köln auf, die sich auf die strenge Linie des OLG Celle gestützt hatte. Er stellte klar: Bei Vorschäden außerhalb der Besitzzeit des Geschädigten darf diesem nicht verwehrt werden, eine nur vermutete fachgerechte Reparatur zu behaupten und unter Zeugenbeweis zu stellen.
2. BGH vom 06.06.2023 (VI ZR 197/21): Der BGH rügte das Berufungsgericht wegen überspannter Substantiierungsanforderungen und stellte klar, dass § 287 ZPO (nicht § 286 ZPO!) zur Anwendung kommt.
3. BGH vom 30.07.2024 (VI ZR 122/23): Der BGH bekräftigte erneut: Die Abgrenzung oder Abgrenzbarkeit ist keine Frage der Darlegung, sondern der Beweiserhebung und richterlichen Überzeugungsbildung.
Kernkritik an der früheren OLG Celle-Linie: Das OLG Celle hatte den Maßstab des § 286 ZPO (Strengbeweis) angewandt, während nach der BGH-Rechtsprechung § 287 ZPO (erleichtertes Beweismaß) gilt. Dies ist ein fundamentaler Unterschied: Nach § 287 ZPO genügt für die Überzeugungsbildung eine überwiegende Wahrscheinlichkeit, während § 286 ZPO einen Vollbeweis verlangt.
Aktuelle Tendenz des OLG Celle
Das OLG Celle hat in seiner Entscheidung vom 01.03.2023 (14 U 149/22) eine deutliche Kurskorrektur erkennen lassen und ausdrücklich auf die erleichterte Darlegungs- und Beweislast nach § 287 ZPO Bezug genommen.
Praxisrelevanz für Verfahren am LG/OLG Celle
Wenn Sie vor dem Landgericht Hannover oder dem OLG Celle einen Schadensersatzanspruch mit Vorschadenproblematik geltend machen:
- Berufen Sie sich ausdrücklich auf die BGH-Rechtsprechung (VI ZR 377/18, VI ZR 197/21, VI ZR 122/23).
- Weisen Sie darauf hin, dass § 287 ZPO (nicht § 286 ZPO) anzuwenden ist.
- Bei unbekannten Vorschäden: Bloße Vermutung einer fachgerechten Reparatur unter Zeugenbeweis genügt.
- Die Abgrenzbarkeit ist Sache des Sachverständigen, nicht Ihrer Darlegungslast.
- Ältere OLG Celle-Entscheidungen (vor 2019) sind durch die BGH-Rechtsprechung überholt.
Zusammenfassung
Die Entscheidung des BGH vom 06.06.2023 (VI ZR 197/21) stärkt die Position des Geschädigten bei der Schadensabwicklung erheblich. Die wesentlichen Punkte sind:
- Bei unbekannten Vorschäden vor der Besitzzeit: geringere Substantiierungsanforderungen
- § 287 ZPO erleichtert Darlegung und Beweis
- Kein Privatgutachten zur Abgrenzung erforderlich
- Abgrenzung ist Sache der Beweiserhebung, nicht der Darlegung
- Mindestschaden ist stets zu ersetzen
- Bei bekannten Vorschäden: Behauptung fachgerechter Reparatur unter Zeugenbeweis genügt
Fundstellen
BGH-Rechtsprechung:
- BGH, Beschluss vom 06.06.2023, VI ZR 197/21, NJW-RR 2023, 1038
- BGH, Beschluss vom 15.10.2019, VI ZR 377/18, NJW 2020, 393
- BGH, Beschluss vom 30.07.2024, VI ZR 122/23, VersR 2024, 1617
OLG Celle:
- OLG Celle, Urteil vom 01.03.2023, 14 U 149/22 (aktuelle Linie)
- OLG Celle, Urteil vom 08.02.2017, 14 U 119/16 (überholt)
- OLG Celle, Beschluss vom 20.09.2018, 14 U 124/18 (überholt)
- OLG Celle, Beschluss vom 12.04.2017, 14 U 40/17 (überholt)
Literatur: Looschelders, VersR 2024, 329-336; Werner, DAR 2025, 204
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