Wann und wie sich der Haftpflichtversicherer von seiner Regulierungszusage lösen kann
Die Ausgangslage: Das Anerkenntnis bindet
Hat der Haftpflichtversicherer ein Anerkenntnis abgegeben – sei es durch ausdrückliche Regulierungszusage oder durch schlüssiges Verhalten wie fortlaufende Zahlungen – ist er daran grundsätzlich gebunden. Doch in der Praxis versuchen Versicherer immer wieder, sich von dieser Bindung zu lösen, um Zahlungen einzustellen oder zu kürzen.
Die entscheidende Frage: Unter welchen Voraussetzungen kann sich der Versicherer vom Anerkenntnis lösen – und was muss er dafür darlegen und beweisen?
Die verschiedenen Arten des Anerkenntnisses
Die Anforderungen an eine Lösung vom Anerkenntnis hängen maßgeblich davon ab, welche Art von Anerkenntnis vorliegt:
| Art | Wirkung | Lösung möglich? |
| Deklaratorisches Anerkenntnis | Bestätigt bestehende Schuld; Sachverhalt gilt als anerkannt | Nur bei Beweis eines abweichenden Sachverhalts |
| Schlüssiges Anerkenntnis | Durch Verhalten (z.B. Zahlung trotz Streit); Beweislastumkehr | Versicherer muss Gegenbeweis führen |
| Abstraktes Anerkenntnis | Eigenständige Anspruchsgrundlage; vom Grund gelöst | Nur über Bereicherungseinrede (§ 812 BGB) |
Lösung vom deklaratorischen Schuldanerkenntnis
Das deklaratorische Schuldanerkenntnis ist die häufigste Form in der Schadensregulierung. Gibt der Versicherer eine Regulierungszusage ab, gilt die Sachverhaltsdarstellung des Geschädigten als anerkannt.
Die Leitentscheidung des VI. Zivilsenats des BGH
BGH, Urt. v. 10.01.1984 – VI ZR 64/82: Der VI. Zivilsenat hat grundlegend entschieden, dass eine schriftliche Erklärung eines Unfallbeteiligten, alleinschuldig zu sein, als deklaratorisches Schuldanerkenntnis gewertet werden kann. Der Erklärungsempfänger ist von der Beweislast befreit, die er ohne die Erklärung hätte. Die Beweislast kehrt sich erst um, wenn der Erklärende die Unrichtigkeit des Anerkannten nachweist.
Die entscheidende Konsequenz: Will sich der Versicherer vom Anerkenntnis lösen, muss er die Unrichtigkeit der ursprünglichen Darstellung darlegen und beweisen – nicht der Geschädigte. Dies ist eine erhebliche Erleichterung für Unfallopfer.
Ergänzend hat die instanzgerichtliche Rechtsprechung diese Grundsätze konkretisiert:
AG Kiel, Urt. v. 18.10.1999 – 110 C 323/99: Die Regulierungszusage des Kfz-Haftpflichtversicherers hat deklaratorische Wirkung. Will der Versicherer von der anerkannten Sachverhaltsdarstellung abweichen, trägt er die volle Darlegungs- und Beweislast für den abweichenden Sachverhalt.
Was der Versicherer darlegen und beweisen muss
- Abweichender Sachverhalt: Der Versicherer muss konkret darlegen, welcher andere Sachverhalt tatsächlich vorliegt
- Beweismittel: Er muss geeignete Beweismittel für den abweichenden Sachverhalt vorlegen (Zeugen, Gutachten, Dokumente)
- Vollbeweis: Der Versicherer muss den abweichenden Sachverhalt zur vollen Überzeugung des Gerichts beweisen – keine bloße Wahrscheinlichkeit
Lösung vom schlüssigen Anerkenntnis
Ein Anerkenntnis kann auch durch schlüssiges Verhalten erfolgen – etwa wenn der Versicherer trotz Streit über die Haftung einzelne Schadenspositionen reguliert oder über längere Zeit Zahlungen leistet.
KG Berlin, Beschl. v. 11.02.2010 – 12 U 92/09: Die Regulierung einzelner Schadenspositionen trotz bestehender Streitigkeiten über die Haftung kann als schlüssiges Schuldanerkenntnis gewertet werden. In diesem Fall wird eine Beweislastumkehr zugunsten des Geschädigten angenommen.
Beispiele für schlüssiges Anerkenntnis
- Fortlaufende Zahlung von Verdienstausfall ohne ausdrücklichen Vorbehalt
- Regulierung von Heilbehandlungskosten trotz streitiger Unfallkausalität
- Übernahme von Pflegekosten über mehrere Jahre
- Zahlung von Schmerzensgeldvorschüssen
Die Beweislastumkehr
Bei einem schlüssigen Anerkenntnis kehrt sich die Beweislast um:
- Ohne Anerkenntnis: Der Geschädigte muss seinen Schaden und die Kausalität beweisen
- Mit Anerkenntnis: Der Versicherer muss beweisen, dass die Darstellung des Geschädigten nicht zutrifft
Lösung vom abstrakten Schuldanerkenntnis
Das abstrakte Schuldanerkenntnis (§ 781 BGB) ist die stärkste Form und begründet eine eigenständige Anspruchsgrundlage, die vom ursprünglichen Schuldgrund losgelöst ist.
Lösung nur über Bereicherungseinrede: Der Versicherer kann sich nur lösen, indem er darlegt und beweist, dass der zugrunde liegende Anspruch nicht besteht oder unrechtmäßig war (Kondiktionseinrede nach § 812 BGB). Die Beweislast liegt vollständig beim Versicherer.
Praktische Bedeutung für Geschädigte
Die Rechtsprechung zur Lösung vom Anerkenntnis hat erhebliche praktische Auswirkungen:
Der Versicherer kann nicht einfach zahlen und später behaupten, er habe zu viel gezahlt
Hat der Versicherer über Jahre Zahlungen geleistet, kann er diese nicht unter Berufung auf eine bloße Neubewertung der gleichen Tatsachen einstellen. Er müsste beweisen, dass sich die tatsächlichen Umstände geändert haben – etwa dass der Geschädigte wieder arbeitsfähig ist oder weniger Pflegebedarf besteht.
Dokumentation ist entscheidend
Für Geschädigte ist es wichtig, alle Zahlungen und Zusagen des Versicherers zu dokumentieren:
- Alle Schreiben und E-Mails des Versicherers aufbewahren
- Zahlungseingänge mit Datum und Verwendungszweck dokumentieren
- Regulierungszusagen und Abrechnungsschreiben sichern
- Telefonate mit dem Versicherer schriftlich bestätigen lassen
Vorsicht bei Zahlungseinstellung: Stellt der Versicherer nach Jahren plötzlich Zahlungen ein, sollten Sie sofort anwaltliche Hilfe suchen. Häufig ist die Einstellung rechtswidrig, weil der Versicherer die Voraussetzungen für eine Lösung vom Anerkenntnis nicht erfüllt.
Versicherer will sich vom Anerkenntnis lösen?
Wir prüfen, ob die Voraussetzungen vorliegen und setzen Ihre Ansprüche durch.
Telefon: 0511 3003780
Rechtsprechung und Literatur
- BGH, Urt. v. 10.01.1984 – VI ZR 64/82 (Leitentscheidung: Deklaratorisches Schuldanerkenntnis, Beweislastumkehr)
- AG Kiel, Urt. v. 18.10.1999 – 110 C 323/99 (Deklaratorische Wirkung der Regulierungszusage)
- KG Berlin, Beschl. v. 11.02.2010 – 12 U 92/09 (Schlüssiges Schuldanerkenntnis, Beweislastumkehr)
- AG Hameln, Urt. v. 07.08.2009 – 23 C 40/09 (Abstraktes Schuldanerkenntnis, Bereicherungseinrede)
- LG Flensburg, Urt. v. 21.03.2000 – 4 O 302/99 (Darlegungslast des Versicherers)
- LG Freiburg, Urt. v. 20.10.1981 – 9 S 163/81 (Schuldanerkenntnis am Unfallort)
- § 781 BGB (Schuldanerkenntnis); § 812 BGB (Bereicherungsrecht)
Kanzlei von Boehn | Rechtsanwalt Bernhard von Boehn
Fachanwalt für Arbeitsrecht | Fachanwalt für Verkehrsrecht | Fachanwalt für Versicherungsrecht
Burgdorf bei Hannover | www.von-boehn.de