Die Rechtsprechung des VI. Zivilsenats des BGH und die problematische Praxis des OLG Celle
Der Haushaltsführungsschaden als Personenschaden
Der Haushaltsführungsschaden ist ein zentraler Bestandteil der Schadensregulierung bei Personenschäden. Er erfasst die Beeinträchtigung der Fähigkeit, den eigenen Haushalt zu führen – von der Reinigung über das Kochen bis zur Kinderbetreuung. Nach § 843 Abs. 1 BGB ist dieser Schaden als vermehrte Bedürfnisse ersatzfähig.
Die fiktive Abrechnung: Der Geschädigte muss keine Haushaltshilfe tatsächlich einstellen. Er kann den Schaden auch fiktiv abrechnen – also den objektiv erforderlichen Betrag verlangen, ohne nachweisen zu müssen, dass er diesen tatsächlich aufgewendet hat.
Die Rechtsprechung des VI. Zivilsenats des BGH
Der VI. Zivilsenat des BGH hat in mehreren Grundsatzentscheidungen die Anforderungen an die Darlegung und Schätzung des Haushaltsführungsschadens konkretisiert:
Verminderte Darlegungslast nach § 287 ZPO
BGH, Beschl. v. 14.10.2025 – VI ZR 24/25: Der VI. Zivilsenat hat klargestellt, dass überspannte Anforderungen an die Substantiierungspflicht eine Gehörsverletzung darstellen. Es genügt, wenn der Kläger die täglichen wiederkehrenden Bedürfnisse schildert – eine detaillierte Auflistung aller Tätigkeiten ist nicht erforderlich.
BGH, Urt. v. 17.09.2019 – VI ZR 494/18: Bei der fiktiven Abrechnung ist der objektiv zur Herstellung erforderliche Betrag ohne Bezug zu tatsächlich getätigten Aufwendungen zu ermitteln. Das Gericht hat diesen Betrag gemäß § 287 ZPO unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung zu ermitteln. Eine verbleibende Unsicherheit darf das Gericht nicht davon abhalten, eine Schadensermittlung vorzunehmen.
Die Kernaussagen des BGH
- Schätzung ist Pflicht: Das Gericht ist verpflichtet, zumindest einen Mindestschaden zu schätzen, auch wenn der Vortrag nicht vollständig ist
- Tabellenwerke zulässig: Eine Schätzung anhand von Tabellenwerken (z.B. Schulz-Borck/Pardey) ist ausdrücklich möglich
- Keine Haushaltshilfe erforderlich: Der Geschädigte muss keine Ersatzkraft einstellen, um den Schaden geltend zu machen
- Unsicherheit hinnehmbar: Es liegt in der Natur der fiktiven Abrechnung, dass eine gewisse Unsicherheit verbleibt
Die abweichende Praxis des 14. Zivilsenats des OLG Celle
Der 14. Zivilsenat des OLG Celle weicht in seiner ständigen Rechtsprechung erheblich von den Grundsätzen des BGH ab. Dies betrifft sowohl den angesetzten Stundensatz als auch die Methodik der Schadensschätzung.
Der starre Stundensatz von 8 € seit 2004
OLG Celle, Urt. v. 26.06.2019 – 14 U 154/18: Der 14. Zivilsenat legt seit mindestens 2004 einen pauschalen Stundensatz von 8,00 € zugrunde – und hat diesen seither nicht angepasst. In der Entscheidung vom 26.06.2019 wurde dieser Betrag erneut bestätigt.
Lohnentwicklung seit 2004: Was 8 € heute wären
Die Beibehaltung des Stundensatzes von 8 € seit 2004 ignoriert die erhebliche Lohnentwicklung in Deutschland:
| Zeitpunkt | Mindestlohn | OLG Celle |
| 2004 (OLG Celle-Rechtsprechung) | – (kein Mindestlohn) | 8,00 € |
| 2015 (Einführung Mindestlohn) | 8,50 € | 8,00 € |
| 2025 (aktuell) | 12,82 € | 8,00 € |
| 2026 (beschlossen) | 13,90 € | 8,00 € (?) |
Hochrechnung: Was wären 8 € von 2004 heute wert?
Bei einer konservativen Lohnsteigerung von durchschnittlich 2,5 % pro Jahr über 21 Jahre (2004–2025) ergäbe sich folgender Wert:
8,00 € × (1,025)²¹ = ca. 13,40 € pro Stunde
Berücksichtigt man die tatsächliche Mindestlohnentwicklung (von 8,50 € in 2015 auf 12,82 € in 2025 = +51 % in 10 Jahren), wäre eine Anpassung auf mindestens 12–14 € erforderlich, um den realen Wert von 2004 zu erhalten.
Kritik an der Rechtsprechung des OLG Celle
1. Missachtung der verminderten Darlegungslast (§ 287 ZPO)
Der BGH betont in ständiger Rechtsprechung, dass im Rahmen des § 287 ZPO erleichterte Anforderungen an die Darlegung gelten. Das Gericht muss eine Schätzung vornehmen und darf sich nicht hinter angeblich unzureichendem Vortrag verstecken. Das OLG Celle missachtet diese Grundsätze, indem es:
- Tabellenwerke wie Schulz-Borck/Pardey pauschal ablehnt
- Überhöhte Anforderungen an die konkrete Darlegung stellt
- Einen starren Stundensatz anwendet statt eine individuelle Schätzung vorzunehmen
2. Rechtswidrig geringe Bewertung der Familienunterstützung
Das OLG Celle bewertet die Unterstützung durch Familienangehörige systematisch zu gering. Wenn Ehepartner oder Kinder die Haushaltsführung übernehmen, wird dies oft nur mit dem niedrigen Stundensatz von 8 € angesetzt – obwohl der BGH klargestellt hat, dass die fiktiven Kosten einer Ersatzkraft maßgeblich sind, nicht die (oft unentgeltliche) Familienunterstützung.
3. Ignorieren der Lohnentwicklung
Der starre Stundensatz von 8 € seit 2004 ignoriert:
- Die Einführung und Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns
- Die allgemeine Lohn- und Preisentwicklung
- Die Tatsache, dass heute niemand mehr für 8 € brutto pro Stunde Haushaltsarbeiten verrichtet
- Die Branchenmindestlöhne für Gebäudereiniger (14,25 € in 2025)
Praktische Konsequenzen für Geschädigte
Die Rechtsprechung des OLG Celle führt zu einer systematischen Unterregulierung des Haushaltsführungsschadens. Ein Beispiel:
Rechenbeispiel: Ein Geschädigter mit 50 % Beeinträchtigung im Haushalt (20 Stunden/Woche) über 5 Jahre:
Nach OLG Celle (8 €): 20 h × 52 Wochen × 5 Jahre × 8 € = 41.600 €
Nach BGH-Grundsätzen (12,82 €): 20 h × 52 Wochen × 5 Jahre × 12,82 € = 66.664 €
Differenz: 25.064 € – zu Lasten des Geschädigten!
Haushaltsführungsschaden zu gering berechnet?
Wir prüfen Ihre Ansprüche nach den Grundsätzen des BGH – nicht nach der restriktiven Praxis einzelner Obergerichte.
Telefon: 0511 3003780
Rechtsprechung des VI. Zivilsenats des BGH
- BGH, Beschl. v. 14.10.2025 – VI ZR 24/25 (Gehörsverletzung durch überspannte Substantiierungspflicht)
- BGH, Urt. v. 17.09.2019 – VI ZR 494/18 (Richterliches Schätzungsermessen bei fiktiver Abrechnung)
- BGH, Urt. v. 10.10.1989 – VI ZR 247/88 (Hausarbeitshilfe, Kausalität)
- OLG Celle, Urt. v. 26.06.2019 – 14 U 154/18 (Stundensatz 8 €, Ablehnung von Tabellenwerken)
- § 287 ZPO (Schadensschätzung); § 843 Abs. 1 BGB (Vermehrte Bedürfnisse)
Kanzlei von Boehn | Rechtsanwalt Bernhard von Boehn
Fachanwalt für Arbeitsrecht | Fachanwalt für Verkehrsrecht | Fachanwalt für Versicherungsrecht
Burgdorf bei Hannover | www.von-boehn.de