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Pflegekosten bei Angehörigenpflege

Die Rechtsprechung des 1. Zivilsenats des OLG Celle (Arzthaftungssenat) zur Erstattung von Pflegekosten

Pflege durch Angehörige: Ein zentrales Thema im Arzthaftungsrecht

Wenn ein Patient durch einen Behandlungsfehler schwerstpflegebedürftig wird, stellt sich regelmäßig die Frage: Wie werden die Pflegeleistungen vergütet, die nahe Angehörige – oft Eltern, Ehepartner oder Kinder – erbringen? Die Antwort hat erhebliche praktische Bedeutung, denn die Pflegekosten machen bei Schwerstgeschädigten oft den größten Schadensposten aus.

Die zentrale Frage: Müssen Angehörige ihre Pflegeleistungen unentgeltlich erbringen – oder haben sie Anspruch auf eine angemessene Vergütung zu Lasten des Schädigers?

Die Leitentscheidung des OLG Celle vom 04.12.2023

Der 1. Zivilsenat des OLG Celle (Arzthaftungskammer) hat in seinem Urteil vom 04.12.2023 (1 U 86/22) grundlegende Aussagen zur Erstattung von Pflegekosten bei Angehörigenpflege getroffen:

OLG Celle, Urt. v. 04.12.2023 – 1 U 86/22: Die von nahen Angehörigen unentgeltlich erbrachte Pflege ist gemäß § 843 Abs. 1 Alt. 2 BGB zu vergüten, unabhängig davon, ob die Angehörigen einen Verdienstausfall erlitten haben. Die Höhe des Schadensersatzes orientiert sich am Nettolohn einer vergleichbaren entgeltlich eingesetzten Pflegekraft.

Die Kernaussagen der Entscheidung

1. Angemessene Vergütung für unentgeltliche Angehörigenpflege

Das OLG Celle stellt klar: Auch wenn Angehörige die Pflege ohne Vergütung erbringen, hat der Geschädigte einen Schadensersatzanspruch gegen den Schädiger. Dieser Anspruch ist nicht davon abhängig, ob die pflegenden Angehörigen:

  • einen eigenen Verdienstausfall erlitten haben
  • ihre Berufstätigkeit aufgegeben haben
  • tatsächlich eine Vergütung erhalten

Maßstab: Die Vergütung orientiert sich am Nettolohn einer vergleichbaren entgeltlich eingesetzten Pflegekraft. Damit wird der objektive Wert der Pflegeleistung erfasst – nicht der subjektive Aufwand der Angehörigen.

2. Vorrang der häuslichen Pflege

Wichtig: Ein Schwerstgeschädigter muss sich nicht auf eine kostengünstigere stationäre Pflege (Heimunterbringung) verweisen lassen. Das OLG Celle lehnt eine generelle Obergrenze für die Kosten der häuslichen Pflege im Verhältnis zu den Heimunterbringungskosten ausdrücklich ab.

Nur in Ausnahmefällen kann eine Verweisung auf stationäre Pflege zulässig sein – nämlich wenn die häusliche Pflege mit unverhältnismäßigen und unzumutbaren Aufwendungen verbunden wäre. Die bloße Tatsache, dass häusliche Pflege teurer ist als Heimunterbringung, reicht dafür nicht aus.

3. Anstellung von Angehörigen als Pflegekräfte

Das OLG Celle bestätigt ausdrücklich: Es ist rechtlich nicht zu beanstanden, wenn Schwerstgeschädigte ihre Eltern oder andere Angehörige als Pflegekräfte anstellen. Die Vergütung sollte sich dabei an den marktüblichen Kosten für Pflegekräfte orientieren.

4. Angemessene Vergütungssätze

Keine pauschale Niedrigsätze: Die Vergütung für Pflegeleistungen durch Angehörige darf nicht pauschal niedrig angesetzt werden. Stattdessen sind die marktüblichen Löhne für Pflegekräfte heranzuziehen, die deutlich über den Tarifen des öffentlichen Dienstes (TVöD) liegen können.

Das OLG Celle hält einen Zuschlag von 20 % für zusätzliche Leistungen wie Urlaub, Feiertage und Krankheitsvertretung für angemessen. Dieser Zuschlag berücksichtigt, dass bei Anstellung einer professionellen Pflegekraft auch Vertretungskosten anfallen würden.

Aktuelle Stundensätze: Hochrechnung auf 2025

Bei der Berechnung der Pflegekosten müssen die aktuellen Pflegemindestlöhne zugrunde gelegt werden. Diese liegen seit dem 1. Juli 2025 deutlich über dem allgemeinen Mindestlohn:

QualifikationBrutto/Std.ab 07/2026
Pflegehilfskräfte (ungelernt)16,10 €16,52 €
Qualifizierte Pflegehilfskräfte (1-jährige Ausbildung)17,35 €17,80 €
Pflegefachkräfte (3-jährige Ausbildung)20,50 €21,03 €

Quelle: 6. Pflegearbeitsbedingungsverordnung (PflegeArbbV), gültig seit 01.07.2025

Vergessene Nachtzuschläge: Ein gravierender Fehler

Kritik: Der 1. Zivilsenat des OLG Celle hat in seiner Entscheidung die gesetzlich vorgeschriebenen Nachtzuschläge nach § 6 Abs. 5 ArbZG nicht berücksichtigt. Bei der Pflege von Schwerstpflegebedürftigen fällt jedoch regelmäßig Nachtarbeit an – oft rund um die Uhr.

Gesetzlicher Anspruch auf Nachtzuschlag

Nach § 6 Abs. 5 ArbZG haben Arbeitnehmer, die regelmäßig Nachtarbeit leisten (23–6 Uhr), Anspruch auf einen angemessenen Ausgleich. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts geht von folgenden Zuschlägen aus:

  • Gelegentliche Nachtarbeit: mindestens 25 % Zuschlag
  • Dauernachtarbeit: mindestens 30 % Zuschlag
  • Nachtarbeit an Feiertagen: zusätzlicher Feiertagszuschlag

Auswirkung auf die Pflegekostenberechnung

Rechenbeispiel – 24-Stunden-Pflege mit Nachtzuschlag:

Tagschicht (6–23 Uhr = 17 Stunden): 17 h × 16,10 € = 273,70 €

Nachtschicht (23–6 Uhr = 7 Stunden): 7 h × 16,10 € × 1,25 = 140,88 €

Tagesgesamtkosten mit Nachtzuschlag: 414,58 €

Ohne Nachtzuschlag (wie OLG Celle): 24 h × 16,10 € = 386,40 €

Differenz pro Tag: 28,18 € – pro Jahr: 10.286 €

Krasser Widerspruch: 1. Senat vs. 14. Senat des OLG Celle

Besonders irritierend ist der Widerspruch zwischen den Senaten desselben Oberlandesgerichts:

Position1. Senat (Arzthaftung)14. Senat (Verkehr)
Stundensatz tagsüberMarktüblich (16–20 €)8,00 € (seit 2004!)
Stundensatz nachtsNicht berücksichtigt!6,00 € (weniger als tags!)
NachtzuschlagVergessen!Negativ (−25%)!
20%-ZuschlagJa (Urlaub/Krankheit)Nein

Der skandalöse Nachtansatz des 14. Senats

OLG Celle, 14. Senat: Der 14. Zivilsenat setzt für Nachtarbeit nur 6,00 € pro Stunde an – also 25 % weniger als tagsüber! Dies widerspricht diametral dem gesetzlichen Nachtzuschlag von mindestens 25 % mehr nach § 6 Abs. 5 ArbZG.

Korrekte Berechnung nach Gesetz: Bei einem Tagessatz von 8 € müsste der Nachtsatz mindestens 8 € × 1,25 = 10,00 € betragen – nicht 6,00 €! Der 14. Senat kürzt den Nachtsatz also um faktisch 40 % gegenüber dem gesetzlich gebotenen Wert.

Praktische Bedeutung für Geschädigte und Angehörige

Gestaltungsmöglichkeiten

Die Entscheidung des 1. Senats eröffnet verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten:

  • Fiktive Abrechnung: Der Geschädigte kann die Pflegekosten fiktiv abrechnen, auch wenn Angehörige unentgeltlich pflegen
  • Anstellung der Angehörigen: Die Angehörigen können als Pflegekräfte angestellt und marktüblich vergütet werden
  • Mischmodell: Kombination aus professioneller Pflege und Angehörigenpflege

Vollständige Vergütungsberechnung (korrekt)

PositionKorrekter Ansatz 2025
Grundvergütung Pflegehilfskraft16,10 € brutto/Stunde
Nachtzuschlag (25 %, 23–6 Uhr)+ 4,03 € = 20,13 € brutto/Stunde
Zuschlag Urlaub/Feiertage/Krankheit+ 20 % auf Gesamtkosten
Sonn-/FeiertagszuschlägeZusätzlich nach Tarifvertrag/Vereinbarung

Enorme Differenz: Korrekte vs. fehlerhafte Berechnung

Bei Behandlungsfehlern, die zu Schwerstpflegebedürftigkeit führen, sind die Pflegekosten oft der zentrale Schadensposten. Die Differenz zwischen korrekter und fehlerhafter Berechnung ist enorm:

Vergleichsrechnung – 24-Stunden-Pflege, 40 Jahre:

Nach OLG Celle 14. Senat (8 €/6 €): ca. 2.555 €/Monat = 1.226.400 € Gesamtschaden

Nach korrekter Berechnung (16,10 € + Nachtzuschlag + 20 %): ca. 14.928 €/Monat = 7.165.440 € Gesamtschaden

Differenz: ca. 5.939.040 € zu Lasten des Geschädigten!

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Telefon: 0511 3003780

Rechtsprechung und Rechtsgrundlagen

  1. OLG Celle (1. Senat), Urt. v. 04.12.2023 – 1 U 86/22 (Leitentscheidung: Pflegekosten bei Angehörigenpflege)
  2. OLG Celle (14. Senat), Urt. v. 26.06.2019 – 14 U 154/18 (Stundensatz 8 €/Tag, 6 €/Nacht)
  3. § 843 Abs. 1 Alt. 2 BGB (Vermehrte Bedürfnisse)
  4. § 6 Abs. 5 ArbZG (Nachtzuschlag mindestens 25 %)
  5. 6. Pflegearbeitsbedingungsverordnung (PflegeArbbV), gültig ab 01.07.2025
  6. Pflegemindestlohn 2025: 16,10 €/17,35 €/20,50 € je nach Qualifikation

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