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Private Unfallversicherung

Primärschäden, Sekundärschäden, Beweislast und die ärztliche Invaliditätsfeststellung

Die private Unfallversicherung im Überblick

Die private Unfallversicherung bietet Schutz vor den finanziellen Folgen eines Unfalls, insbesondere bei dauerhaften körperlichen Beeinträchtigungen (Invalidität). Anders als die gesetzliche Unfallversicherung greift sie weltweit und rund um die Uhr – also auch in der Freizeit, im Haushalt oder beim Sport.

Die zentrale Leistung: Bei unfallbedingter Invalidität zahlt der Versicherer eine Kapitalleistung oder Rente. Die Höhe richtet sich nach dem Invaliditätsgrad, der anhand der sogenannten Gliedertaxe oder durch ärztliche Begutachtung ermittelt wird.

In der Praxis scheitern viele berechtigte Ansprüche an formalen Hürden – insbesondere an der fristgerechten ärztlichen Invaliditätsfeststellung. Als Fachanwalt für Versicherungsrecht erlebe ich täglich, wie Versicherer diese Formvorschriften nutzen, um Leistungen abzulehnen.

Primärschäden und Sekundärschäden: Ein wichtiger Unterschied

Für die Leistungspflicht des Unfallversicherers ist die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärschäden von erheblicher Bedeutung:

PrimärschädenSekundärschäden
Unmittelbare körperliche Schäden durch das UnfallereignisMittelbare Folgeschäden, die aus den Primärschäden resultieren
Beispiele: Knochenbrüche, Querschnittslähmung, OrganverletzungenBeispiele: Psychische Folgen (PTBS), Arthrose, Fehlhaltungsschäden
Direkter Kausalzusammenhang zum Unfall erforderlichAdäquater Kausalzusammenhang zum Primärschaden
Versicherungsschutz: Grundsätzlich gegebenVersicherungsschutz: Abhängig von Bedingungen und Zurechnungszusammenhang

Besonderheit: Zweitunfälle und Verschlimmerungen

Ein komplexes Thema ist die Zurechnung von Schäden, die durch einen Zweitunfall entstehen oder eine Verschlimmerung der Erstschäden darstellen. Nach der Rechtsprechung des BGH (Urt. v. 03.12.1997 – IV ZR 43/97) kann auch ein Zweitunfall dem Erstunfall zugerechnet werden, wenn er adäquat kausal durch die Folgen des Erstunfalls verursacht wurde.

Praxisproblem: Versicherer versuchen häufig, Sekundärschäden als nicht unfallbedingt abzulehnen oder auf Vorerkrankungen zu verweisen. Eine präzise medizinische Dokumentation des Kausalzusammenhangs ist daher entscheidend.

Die Beweislast in der privaten Unfallversicherung

Die Beweislastverteilung ist in der Unfallversicherung besonders streng geregelt und stellt für Versicherungsnehmer oft die größte Hürde dar:

Was der Versicherungsnehmer beweisen muss

  • Unfallereignis: Ein von außen auf den Körper wirkendes Ereignis (§ 178 VVG)
  • Gesundheitsschaden: Eine unfallbedingte Gesundheitsschädigung
  • Dauerschaden (Invalidität): Die dauerhafte Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit
  • Kausalität: Der ursächliche Zusammenhang zwischen Unfall und Invalidität
  • Fristgerechte Feststellung: Die ärztliche Feststellung der Invalidität innerhalb der Vertragsfrist

Beweismaß: Für den Vollbeweis muss der Versicherungsnehmer das Gericht von der Wahrheit seiner Behauptungen überzeugen. Eine bloße Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit genügt nicht. Dies gilt insbesondere für die Unfallkausalität der Invalidität.

Was der Versicherer beweisen muss

Der Versicherer trägt die Beweislast für Ausschlusstatbestände, etwa:

  • Vorsätzliche Herbeiführung des Unfalls
  • Alkohol- oder Drogeneinfluss als Unfallursache
  • Mitwirkende Krankheiten oder Gebrechen (über den Mitwirkungsanteil)

Die ärztliche Invaliditätsfeststellung: Zentrale Anspruchsvoraussetzung

Die ärztliche Invaliditätsfeststellung ist eine der wichtigsten formalen Voraussetzungen für Ansprüche aus der privaten Unfallversicherung. Hier scheitern in der Praxis die meisten Ansprüche.

Die Fristenregelung (Ziff. 2.1.1.1 AUB)

Die Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB) sehen regelmäßig vor:

  • Invaliditätseintritt: Die Invalidität muss innerhalb eines Jahres nach dem Unfall eingetreten sein
  • Ärztliche Feststellung: Die Invalidität muss innerhalb von 15 Monaten (AUB 2014) bzw. 18 oder 24 Monaten (ältere Bedingungen) nach dem Unfall ärztlich festgestellt werden
  • Geltendmachung: Der Anspruch muss innerhalb der vertraglich bestimmten Frist beim Versicherer geltend gemacht werden

Wichtig: Erstellung genügt – Zugang nicht erforderlich! Nach herrschender Rechtsprechung muss die ärztliche Invaliditätsbescheinigung lediglich innerhalb der Frist erstellt werden. Es ist nicht erforderlich, dass sie dem Versicherer innerhalb der Frist zugeht. Dies ist ein häufiges Missverständnis, das zu unnötigen Ablehnungen führt.

Inhaltliche Anforderungen an die Bescheinigung

Die ärztliche Feststellung muss bestimmte inhaltliche Mindestanforderungen erfüllen:

  • Eindeutigkeit: Die Invalidität und deren Unfallursächlichkeit müssen klar und eindeutig festgestellt werden
  • Keine einschränkenden Formulierungen: Zusätze wie „wahrscheinlich“, „möglicherweise“ oder „nicht auszuschließen“ können problematisch sein
  • Dauerhaftigkeit: Es muss erkennbar sein, dass eine dauerhafte Beeinträchtigung vorliegt
  • Ärztliche Qualifikation: Die Feststellung muss von einem Arzt stammen (nicht Heilpraktiker o.ä.)

Achtung bei Formularen: Viele Versicherer verwenden eigene Formulare für die Invaliditätsfeststellung, die einschränkende Formulierungen vorgeben. Nach der Rechtsprechung des OLG Bremen kann dies dem Versicherungsnehmer nicht zum Nachteil gereichen, wenn die Einschränkung auf der Gestaltung des Formulars beruht.

Belehrungspflichten des Versicherers

Der Versicherer ist verpflichtet, den Versicherungsnehmer über die Fristen und die Notwendigkeit der ärztlichen Feststellung zu informieren. Diese Belehrungspflicht ergibt sich aus § 186 VVG und den AUB.

Rechtsfolge bei unterlassener Belehrung: Unterbleibt die ordnungsgemäße Belehrung, kann sich der Versicherer nach § 242 BGB (Treu und Glauben) nicht auf die Fristversäumnis berufen. Dies gilt auch, wenn die Belehrung unklar oder versteckt in umfangreichen Unterlagen erfolgt.

Die Rechtsprechung stellt hohe Anforderungen an die Belehrung:

  • Die Belehrung muss klar und verständlich sein
  • Sie muss die konkreten Fristen benennen
  • Sie muss auf die Notwendigkeit der ärztlichen Feststellung hinweisen
  • Eine bloße Bezugnahme auf die AUB genügt nicht

Treuwidrigkeit: Wenn der Versicherer sich nicht auf Fristen berufen darf

In bestimmten Konstellationen ist es dem Versicherer nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) verwehrt, sich auf das Fehlen einer fristgerechten ärztlichen Invaliditätsfeststellung zu berufen:

  • Fehlende Belehrung: Der Versicherer hat nicht ordnungsgemäß über die Fristen belehrt
  • Irreführendes Verhalten: Der Versicherer hat durch sein Verhalten den Eindruck erweckt, die Frist sei nicht relevant
  • Verzögerte Bearbeitung: Der Versicherer hat durch Verzögerungen die Fristwahrung erschwert
  • Vorbehaltlose Leistung: Der Versicherer hat bereits Leistungen erbracht, ohne auf die Frist hinzuweisen

Vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 10.12.2020 – 6 U 72/20; OLG Saarbrücken, Urt. v. 18.10.2006 – 5 U 222/06

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Rechtsprechung und Literatur

  1. OLG Hamm, Beschl. v. 10.12.2020 – 6 U 72/20 (Treuwidrigkeit bei fehlender Belehrung)
  2. BGH, Urt. v. 03.12.1997 – IV ZR 43/97 (Zurechnung von Zweitunfällen)
  3. OLG Frankfurt, Urt. v. 17.11.2021 – 7 U 24/20 (Invaliditätsfeststellungsfrist)
  4. OLG Bremen, Beschl. v. 09.06.2016 – 3 U 23/14 (Einschränkende Formulierungen)
  5. OLG Celle, Urt. v. 05.03.2009 – 8 U 193/08 (Wirksamkeit der Fristenregelung)
  6. OLG Saarbrücken, Urt. v. 18.10.2006 – 5 U 222/06 (Belehrungspflicht)
  7. Kloth/Piontek, Die private Unfallversicherung – Aktuelles aus Rechtsprechung und Praxis, RuS 2017, 561-574
  8. §§ 178 ff. VVG; Ziff. 2.1.1.1 AUB 2010/2014

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