Zum Inhalt springen

Arbeitsrecht: BAG: Außendienstmitarbeiter: Keine Verkürzung von vergütungspflichtigen Fahrtzeiten

Das BAG hat entschieden, dass Regelungen in einer Betriebsvereinbarung, welche die vergütungspflichtigen Fahrtzeiten eines Außendienstmitarbeiters verkürzen, wegen Verstoßes gegen die Tarifsperre des § 77 Absatz 3 Satz 1 BetrVG unwirksam sind, wenn die betreffenden Zeiten nach den Bestimmungen des einschlägigen Tarifvertrags uneingeschränkt der entgeltpflichtigen Arbeitszeit zuzurechnen und mit der tariflichen Grundvergütung abzugelten sind.

Der Kläger ist bei der Beklagten als Servicetechniker im Außendienst tätig. Die Beklagte ist aufgrund Mitgliedschaft im vertragschließenden Arbeitgeberverband an die Tarifverträge des Groß- und Außenhandels Niedersachsen gebunden. Kraft dynamischer Bezugnahme im Arbeitsvertrag finden diese Tarifverträge auf das Arbeitsverhältnis Anwendung. In einer Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 2001 (BV) ist zu § 8 geregelt, dass Anfahrtszeiten zum ersten und Abfahrtszeiten vom letzten Kunden nicht zur Arbeitszeit zählen, wenn sie 20 min nicht überschreiten. Sofern An- und Abreise länger als jeweils 20 min dauern, zählt die 20 min übersteigende Fahrtzeit zur Arbeitszeit. In das für den Kläger geführte Arbeitszeitkonto hat die Beklagte Reisezeiten von dessen Wohnung zum ersten Kunden und vom letzten Kunden nach Hause bis zu einer Dauer von jeweils 20 min nicht als Zeiten geleisteter Arbeit eingestellt. Sie leistete hierfür auch keine Vergütung.
Mit seiner Klage verlangte der Kläger, seinem Arbeitszeitkonto Fahrtzeiten für März bis August 2017 im Umfang von 68 h und 40 min gutzuschreiben, hilfsweise an ihn 1.219,58 Euro brutto nebst Zinsen zu zahlen. Die Beklagte beantragte Klageabweisung und meinte, ein solcher Anspruch sei durch § 8 BV wirksam ausgeschlossen.
Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht hatten die Klage abgewiesen.

Das BAG hat der Revision des Klägers stattgegeben.

Nach Auffassung des BAG erfüllt der Kläger mit den Fahrten von seiner Wohnung zum ersten Kunden und vom letzten Kunden zurück seine vertraglich geschuldete Arbeitsleistung. Ein daraus resultierender Vergütungsanspruch werde durch § 8 BV nicht ausgeschlossen. Die Bestimmung regele die Vergütung der Arbeitszeit, indem sie die An- und Abfahrtszeiten zum ersten bzw. vom letzten Kunden – soweit sie 20 min nicht überstiegen – von der Vergütungspflicht ausschließe. § 8 BV betreffe damit entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts einen tariflich geregelten Gegenstand.

Nach dem einschlägigen Manteltarifvertrag (MTV) seien sämtliche Tätigkeiten, die ein Arbeitnehmer in Erfüllung seiner vertraglichen Hauptleistungspflicht erbringe, mit der tariflichen Grundvergütung abzugelten. Dazu gehöre bei Außendienstmitarbeitern die gesamte für An- und Abfahrten zum Kunden aufgewendete Fahrtzeit. Da der MTV keine Öffnungsklausel zugunsten abweichender Betriebsvereinbarungen enthalte, sei § 8 BV wegen Verstoßes gegen die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG unwirksam.

Arbeitsentgelte, die durch Tarifvertrag geregelt seien, könnten nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG sei nicht wegen des Eingreifens eines Mitbestimmungsrechts aus § 87 Abs. 1 BetrVG aufgehoben. Auf Grund der Bindung der Beklagten an die fachlich einschlägigen Tarifverträge des Groß- und Außenhandels Niedersachsen, welche die Vergütung für geleistete Arbeit auch in Bezug auf Fahrtzeiten der Außendienstmitarbeiter abschließend regelten, bestehe insoweit schon nach § 87 Abs. 1 Eingangshalbsatz BetrVG kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats.

Der Kläger könne somit von der Beklagten die Gutschrift der umstrittenen Fahrtzeiten verlangen, soweit unter ihrer Berücksichtigung die vertraglich geschuldete regelmäßige Arbeitszeit überschritten wurde. Ob dies der Fall sei, habe das BAG mangels hinreichender Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht abschließend entscheiden können. Die Sache sei deshalb unter Aufhebung des Berufungsurteils zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen worden. Die vom Berufungsgericht erörterte Frage der Betriebsvereinbarungsoffenheit der arbeitsvertraglichen Vereinbarung stelle sich nicht, da die Betriebsparteien mit der Regelung zur Vergütung der Fahrtzeiten in der BV die Binnenschranken der Betriebsverfassung nicht beachtet hätten und die BV aus diesem Grunde insoweit unwirksam sei.

Vorinstanz
LArbG Düsseldorf, Urt. v. 14.12.2018 – 10 Sa 96/18

Gericht/Institution: BAG
Erscheinungsdatum: 18.03.2020
Entscheidungsdatum: 18.03.2020
Aktenzeichen: 5 AZR 36/19


Quelle: Pressemitteilung des BAG Nr. 12/2020 v. 18.03.2020