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Arbeitsrecht: EuGH: Kein Kündigungsschutz für Schwangere bei Massenentlassungen

Der EuGH hat entschieden, dass schwangeren Arbeitnehmerinnen aufgrund einer Massenentlassung gekündigt werden darf, wenn der Arbeitgeber der entlassenen schwangeren Arbeitnehmerin die ihre Kündigung rechtfertigenden Gründe und die sachlichen Kriterien mitteilt, nach denen die zu entlassenden Arbeitnehmer ausgewählt wurden.

Das spanische Unternehmen Bankia nahm am 09.01.2013 Konsultationen mit der Arbeitnehmervertretung wegen einer geplanten Massenentlassung auf. Am 08.02.2013 erzielte das Verhandlungsgremium eine Vereinbarung, in der die maßgeblichen Kriterien dafür festgelegt wurden, welchen Arbeitnehmern gekündigt werden sollte und welche in dem Unternehmen weiter beschäftigt würden. Am 13.11.2013 stellte Bankia gemäß dieser in dem Gremium getroffenen Vereinbarung einer Arbeitnehmerin, die zu diesem Zeitpunkt schwanger war, ein Kündigungsschreiben zu. Darin hieß es u.a., dass für die spanische Provinz, in der sie arbeite, weitgreifende Personalanpassungen erforderlich seien und dass nach dem Bewertungsverfahren, das das Unternehmen in der Konsultationsphase durchgeführt habe, ihr Ergebnis zu den niedrigsten in dieser Provinz zähle. Die betroffene Arbeitnehmerin erhob gegen ihre Kündigung eine Klage beim Juzgado Social No 1 de Mataró (Arbeits- und Sozialgericht Nr. 1 in Mataró, Spanien), das jedoch zugunsten von Bankia entschied. Dagegen legte sie ein Rechtsmittel beim Tribunal Superior de Justicia de Cataluña (Oberstes Gericht von Katalonien, Spanien) ein, das den EuGH um die Auslegung des Kündigungsverbots zugunsten schwangerer Arbeitnehmerinnen, wie es die Richtlinie 92/85 über die Sicherheit und den Gesundheitsschutz von schwangeren Arbeitnehmerinnen (ABl. 1992, L 348, 1) vorsieht, in Fällen ersucht hat, in denen ein Massenentlassungsverfahren im Sinne der Richtlinie 98/59 über Massenentlassungen (ABl. 1998, L 225, 16) durchgeführt wird. Die Richtlinie 92/85 verbietet die Kündigung von Arbeitnehmerinnen in der Zeit vom Schwangerschaftsbeginn bis zum Ende des Mutterschaftsurlaubs; davon ausgenommen sind die nicht mit ihrem Zustand in Zusammenhang stehenden Ausnahmefälle, die entsprechend den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten zulässig sind.

Der EuGH hat entschieden, dass schwangeren Arbeitnehmerinnen aufgrund einer Massenentlassung gekündigt werden darf. In diesem Fall müsse der Arbeitgeber der entlassenen schwangeren Arbeitnehmerin die ihre Kündigung rechtfertigenden Gründe und die sachlichen Kriterien mitteilen, nach denen die zu entlassenden Arbeitnehmer ausgewählt wurden.

Nach Auffassung des EuGH steht die Richtlinie 92/85 nicht einer nationalen Regelung entgegen, nach der die Kündigung einer schwangeren Arbeitnehmerin aufgrund einer Massenentlassung zulässig ist. Eine Kündigungsentscheidung, die aus Gründen erging, die wesentlich mit der Schwangerschaft der Betroffenen zusammenhängen, sei mit dem in dieser Richtlinie vorgesehenen Kündigungsverbot unvereinbar. Dagegen verstoße eine Kündigungsentscheidung in der Zeit vom Schwangerschaftsbeginn bis zum Ende des Mutterschaftsurlaubs aus Gründen, die nichts mit der Schwangerschaft der Arbeitnehmerin zu tun haben, nicht gegen die Richtlinie 92/85, wenn der Arbeitgeber schriftlich berechtigte Kündigungsgründe anführe und die Kündigung der Betroffenen nach den betreffenden einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten zulässig sei. Hieraus folge, dass die nicht in der Person des Arbeitnehmers liegenden Gründe, die im Rahmen von Massenentlassungen i.S.d. Richtlinie 98/59 geltend gemacht werden könnten, unter die nicht mit dem Zustand der Arbeitnehmerinnen in Zusammenhang stehenden Ausnahmefälle im Sinne der Richtlinie 92/85 fielen.

Ferner stehe die Richtlinie 92/85 nicht einer nationalen Regelung entgegen, nach der ein Arbeitgeber einer schwangeren Arbeitnehmerin im Rahmen einer Massenentlassung kündigen könne, ohne ihr weitere Gründe zu nennen als diejenigen, die die Massenentlassung rechtfertigten, solange die sachlichen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer angegeben werden. Hierzu sei nach den beiden Richtlinien in ihrer Kombination nur erforderlich, dass der Arbeitgeber (i) die nicht in der Person der schwangeren Arbeitnehmerin liegenden Gründe schriftlich darlege, aus denen er die Massenentlassung vornehme (nämlich wirtschaftliche, technische oder sich auf Organisation oder Produktion des Unternehmens beziehende Gründe), und (ii) der betroffenen Arbeitnehmerin die sachlichen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer nenne.

In Beantwortung einer anderen Frage des Tribunal Superior de Justicia de Cataluña hat der EuGH hingegen auch entschieden, dass die Richtlinie 92/85 einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Kündigung von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen nicht grundsätzlich präventiv verbietet und im Fall einer widerrechtlichen Kündigung lediglich deren Unwirksamkeit als Wiedergutmachung vorsieht. Die Richtlinie 92/85 unterscheide ausdrücklich zwischen dem präventiven Schutz vor der Kündigung selbst und dem Schutz vor den Folgen der Kündigung als Wiedergutmachung. Die Mitgliedstaaten müssten daher diesen doppelten Schutz gewährleisten. Angesichts der Gefahr, die eine mögliche Entlassung für die physische und psychische Verfassung von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen oder stillenden Arbeitnehmerinnen darstelle, einschließlich des besonders schwerwiegenden Risikos, dass eine schwangere Arbeitnehmerin zum freiwilligen Abbruch ihrer Schwangerschaft veranlasst werde, komme dem präventiven Schutz im Rahmen der Richtlinie 92/85 besondere Bedeutung zu. Das in der Richtlinie vorgesehene Kündigungsverbot trage diesen Bedenken Rechnung. Daher ist der EuGH der Auffassung, dass der Schutz im Wege der Wiedergutmachung selbst dann, wenn er zur Wiedereingliederung der entlassenen Arbeitnehmerin und zur Zahlung der wegen der Entlassung nicht erhaltenen Gehälter führt, den präventiven Schutz nicht zu ersetzen vermag. Folglich dürften sich die Mitgliedstaaten nicht darauf beschränken, im Fall einer ungerechtfertigten Kündigung lediglich deren Unwirksamkeit als Wiedergutmachung vorzusehen.

Zwei weitere Fragen des spanischen Gerichts hat der EuGH dahin beantwortet, dass die Richtlinie 92/85 nicht einer nationalen Regelung entgegensteht, die im Rahmen einer Massenentlassung im Sinne der Richtlinie 98/59 für schwangere Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen oder stillende Arbeitnehmerinnen weder einen Vorrang der Weiterbeschäftigung noch einen Vorrang der anderweitigen Verwendung vor dieser Entlassung vorsieht. Hierzu seien die Mitgliedstaaten nach der Richtlinie 92/85 nämlich nicht verpflichtet. Da diese Richtlinie lediglich Mindestvorschriften enthalte, besitzen die Mitgliedstaaten jedoch die Möglichkeit, diesen Gruppen von Arbeitnehmerinnen einen weiter gehenden Schutz zu gewähren.

Gericht/Institution: EuGH
Erscheinungsdatum: 22.02.2018
Entscheidungsdatum: 22.02.2018
Aktenzeichen: C-103/16

Quelle: Pressemitteilung des EuGH Nr. 15/2018 v. 22.02.2018