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Arzthaftungsrecht: BGH: Keine vor der Einwilligung in OP einzuhaltende „Sperrfrist“ 

Amtlicher Leitsatz
a)
§ 630e Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BGB sieht keine vor der Einwilligung einzuhaltende „Sperrfrist“ vor, deren Nichteinhaltung zur Unwirksamkeit der Einwilligung führen würde; die Bestimmung enthält kein Erfordernis, wonach zwischen Aufklärung und Einwilligung ein bestimmter Zeitraum liegen müsste (Bestätigung Senatsurteil vom 20. Dezember 2022 – VI ZR 375/21, BGHZ 236, 42 Rn. 16, 18).

b)
Der Patient muss vor chirurgischen Eingriffen, bei denen der Arzt die ernsthafte Möglichkeit einer Operationserweiterung oder den Wechsel in eine andere Operationsmethode in Betracht ziehen muss, hierüber und über die damit ggf. verbundenen besonderen Risiken aufgeklärt werden.

Tatbestand

Der Kläger nimmt den Chefarzt der Schulterchirurgie und das Krankenhaus auf Schadensersatz wegen fehlerhafter Behandlung und mangelnde Aufklärung in Anspruch.

Der Kläger erlitt eine komplette Ruptur der Supraspinatussehne, es wurde zudem diagnostiziert, dass er auch an ein Impingementsyndrom, eine Bursitis subakromialis und eine Bursitis olecrani litt. Im wurde eine Operation vorgeschlagen und es fand ein Aufklärungsgespräch statt, in dem über die Operationsmethode „Arthroskopie von Schultergelenk und subakromialer Bursa“ aufgeklärt wurde.

Auf Seite 2 des Bogens wird unter der Überschrift „Änderungen/Erweiterungen“ darauf hingewiesen, dass es trotz großer Erfahrung und äußerster Sorgfalt des Arztes in seltenen, unvorhersehbaren Fällen aufgrund unerwarteter Befunde oder technischer Probleme notwendig werden könne, das vorgesehene Verfahren zu erweitern, zu ändern oder die Arthroskopie als offene Operation fortzusetzen. Auf die Möglichkeit der Komplikation der Infektion der Wunde wurde hingewiesen.

Im Rahmen der Arthroskopie wurden der deutlich verdickte und chronisch entzündliche Schleimbeutel entfernt (Bursektomie), der Raum unter dem Schulterdach erweitert (Akromioplastik) und Verklebungen der Rotatorenmanschette gelöst. Außerdem wurde festgestellt, dass die Supraspinatussehne eine komplette Ruptur aufwies. Der Eingriff wurde sodann durch Erweiterung eines der Arthroskopieschnitte mittels Mini-open-Technik fortgeführt.

egen einer postoperativ aufgetretenen Infektion musste sich der Kläger zwei Revisionsoperationen an der rechten Schulter unterziehen. Bei einer operativen Öffnung der Schulter (Arthrotomie) in der BG-Unfallklinik F. am 2. November 2016 wurde Gewebe entnommen, das eine Besiedlung mit dem Keim Staphylococcus epidermidis zeigte. Am 2. Dezember 2016 erfolgte in derselben Klinik eine erneute Sanierung des Wundbetts und eine Abtragung der erkrankten Gelenkinnenhaut.

6Der Kläger macht geltend, er habe mit dem Beklagten zu 2 vereinbart, dass die Operation arthroskopisch durchgeführt werden solle. Der Beklagte zu 2 habe die Operationserweiterung ohne Einwilligung vorgenommen. Auf die Möglichkeit einer Operationserweiterung sei er nicht hingewiesen und nicht über die Risiken aufgeklärt worden. Das mit der Erweiterung des Operationsgebiets verbundene Risiko einer Infektion habe sich bei ihm verwirklicht. Ihm sei es darauf angekommen, dass nur ein arthroskopischer Eingriff durchgeführt werde. Hinzu komme, dass ihm nicht die gemäß § 630e Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BGB erforderliche Überlegungszeit nach der Aufklärung gewährt worden sei. Schließlich sei der Eingriff behandlungsfehlerhaft durchgeführt worden. Bei ihm sei noch heute eine Wunde von etwa 9 cm an der Schulter vorhanden und von einem Mini-open-Eingriff könne unter diesen Umständen keine Rede sein. Ein solch großer Schnitt sei ein wunderbarer Eintrittsort für diverse Keime.

Die Klage war über alle Instanzen erfolglos.

Entscheidungsgründe

Allerdings haftet ein Arzt grundsätzlich für alle den Gesundheitszustand des Patienten betreffenden nachteiligen Folgen, wenn der ärztliche Eingriff nicht durch eine wirksame Einwilligung des Patienten gedeckt und damit rechtswidrig ist und den Arzt ein Verschulden trifft. Dabei setzt eine wirksame Einwilligung des Patienten dessen ordnungsgemäße Aufklärung voraus (§ 630d Abs. 2 BGB, vgl. auch Senatsurteil vom 20. Dezember 2022 – VI ZR 375/21, BGHZ 236, 42 Rn. 14 mwN).

Wie der Senat mit Urteil vom 20. Dezember 2022 (VI ZR 375/21, BGHZ 236, 42) entschieden hat, sieht die Bestimmung in § 630e Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BGB keine vor der Einwilligung einzuhaltende „Sperrfrist“ vor, deren Nichteinhaltung zur Unwirksamkeit der Einwilligung führen würde. Sie enthält kein Erfordernis, wonach zwischen Aufklärung und Einwilligung ein bestimmter Zeitraum liegen müsste, sondern kodifiziert die bisherige Rechtsprechung, der zufolge der Patient vor dem beabsichtigten Eingriff so rechtzeitig aufgeklärt werden muss, dass er durch hinreichende Abwägung der für und gegen den Eingriff sprechenden Gründe seine Entscheidungsfreiheit und damit sein Selbstbestimmungsrecht in angemessener Weise wahrnehmen kann (Senatsurteil vom 20. Dezember 2022 – VI ZR 375/21, BGHZ 236, 42 Rn. 16, 18).

Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Patient vor chirurgischen Eingriffen, bei denen der Arzt die ernsthafte Möglichkeit einer Operationserweiterung oder den Wechsel in eine andere Operationsmethode in Betracht ziehen muss, hierüber und über die damit ggf. verbundenen besonderen Risiken aufgeklärt werden muss (vgl. Senatsurteile vom 21. Mai 2019 – VI ZR 119/18, VersR 2019, 1369 Rn. 15, 21; vom 16. Februar 1993 – VI ZR 300/91, VersR 1993, 703, juris Rn. 21; vom 13. Dezember 1988 – VI ZR 22/88, VersR 1989, 289, juris Rn. 13). Hat der Arzt vor der Operation Hinweise auf eine möglicherweise erforderlich werdende Operationserweiterung unterlassen und zeigt sich intraoperativ die Notwendigkeit einer Erweiterung, dann muss er, soweit dies möglich ist, die Operation beenden, den Patienten nach Abklingen der Narkoseeinwirkungen entsprechend aufklären und seine Einwilligung in den weitergehenden Eingriff einholen (vgl. Senatsurteil vom 16. Februar 1993 – VI ZR 300/91, VersR 1993, 703, juris Rn. 21)

Die Urteilsbegründung wurde auf die wesentlichen Punkte reduziert. Quelle:

BGH, 21.11.2023 – VI ZR 380/22