I. Einleitung: Der Vorwurf, der eine Karriere beenden sollte
Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Eine hochqualifizierte, anerkannte Fachärztin an einem renommierten Klinikum erhält die fristlose Kündigung. Der offizielle, schwerwiegende Vorwurf: massive Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht und des Datenschutzes. Ein solcher Vorwurf ist nicht nur ein Kündigungsgrund, er ist ein potenzieller Karriere-Killer, der das Fundament ärztlichen Handelns – das Vertrauen – bis in die Grundfesten erschüttert.
Doch was, wenn dieser schwerwiegende Vorwurf nur die Spitze eines Eisbergs ist? Wenn dahinter ein viel tieferer, zermürbender Konflikt schwelt? In dem hier zu besprechenden Fall war genau das die Situation. Hinter der Kündigung verbarg sich der mutige Kampf der Ärztin gegen das, was sie als systematische Manipulationen und berufliche Demontage durch ihren direkten Vorgesetzten, einen Chefarzt, empfand. Um sich gegen diese Angriffe zur Wehr zu setzen, sah sie sich gezwungen, vor Gericht zu ziehen. Und um dort ihre Ansprüche zu beweisen, musste sie sensible Patientendaten offenlegen – genau die Handlung, die der Arbeitgeber dann als Grund für die Kündigung anführte.
Damit stand eine fundamentale Rechtsfrage im Raum, die weit über den Einzelfall hinaus Bedeutung hat: Was wiegt schwerer? Die unantastbare Pflicht zur Verschwiegenheit, die das Herzstück des Arzt-Patienten-Verhältnisses bildet, oder das ebenso fundamentale Recht eines Arbeitnehmers, sich vor Gericht effektiv zu verteidigen, wenn Beweise nur durch die Offenlegung ebenjener sensiblen Daten erbracht werden können? Ein wegweisendes Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) Niedersachsen gibt eine differenzierte und für Arbeitnehmer ermutigende Antwort auf diese Frage und beleuchtet zugleich die düsteren Facetten von Machtmissbrauch am Arbeitsplatz. Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen fällte dieses Urteil am 26. Mai 2023 unter dem Aktenzeichen 17 Sa 680/22.
II. Der Fall: Manipulierte OP-Berichte und der Kampf einer Ärztin um Gerechtigkeit
Hintergrund des Arbeitsverhältnisses
Die Klägerin des Verfahrens war eine erfahrene Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Sie war seit mehreren Jahren in einer verantwortungsvollen Position bei einem großen kommunalen Klinikum tätig, unter anderem als Fachärztin in der Klinik für Brustchirurgie und als Koordinatorin des zertifizierten Brustkrebszentrums. Ihre Position und ihre Aufgaben unterstreichen ihre hohe Qualifikation und die erhebliche Verantwortung, die sie trug.
Der Kern des Konflikts
Im Laufe der Zeit entwickelte sich eine tiefgreifende Konfliktsituation zwischen der Fachärztin und ihrem direkten Vorgesetzten, dem Chefarzt der Abteilung. Der zentrale Streitpunkt, der schließlich zur Eskalation führte, war der Vorwurf der Ärztin, der Chefarzt habe Operationsberichte systematisch und bewusst manipuliert. Konkret behauptete sie, dass der Chefarzt in zahlreichen Fällen, in denen sie selbst die Operationen durchgeführt hatte, sich fälschlicherweise in den offiziellen Dokumentationen als Operateur eingetragen habe. Für einen Chirurgen ist die korrekte Dokumentation seiner Eingriffe nicht nur eine Frage der beruflichen Ehre und Reputation, sondern auch von entscheidender Bedeutung für Haftungsfragen und den Nachweis der eigenen Expertise.
Die Eskalation – Der vergebliche interne Weg
Bevor die Ärztin den Rechtsweg beschritt, versuchte sie mehrfach, eine interne Lösung herbeizuführen. Sie forderte das Klinikum wiederholt auf, die ihrer Ansicht nach fehlerhaften und wahrheitswidrigen Eintragungen in den OP-Berichten zu korrigieren. Diese Versuche blieben jedoch erfolglos; der Arbeitgeber lehnte eine Korrektur ab. Dieser Umstand – das nachweisliche Ausschöpfen milderer, innerbetrieblicher Mittel – sollte sich später im Gerichtsverfahren als strategisch entscheidend für die Bewertung ihres Verhaltens erweisen. Es zeigte, dass sie die Eskalation nicht suchte, sondern erst nach dem Scheitern interner Klärungsversuche den Weg zum Gericht wählte.
Die Klage als letztes Mittel
Nachdem ihre internen Bemühungen gescheitert waren, sah die Ärztin keine andere Möglichkeit mehr, als Klage auf Berichtigung der OP-Berichte zu erheben. Hier stand sie vor einer prozessualen Hürde: Um einen Klageantrag vor Gericht durchsetzen zu können, muss dieser hinreichend bestimmt sein (§ 253 ZPO). Das bedeutet, das Gericht und im Falle eines Sieges auch das Vollstreckungsorgan müssen genau wissen, welcher konkrete OP-Bericht in welcher Weise zu korrigieren ist. Die Ärztin trug vor, dass die klinikinternen Fallnummern nicht auf den OP-Berichten selbst vermerkt waren und eine Zuordnung allein anhand dieser Nummern daher unmöglich sei. Um die betroffenen 22 Fälle aus dem Jahr 2020 und einen weiteren aus 2021 eindeutig zu identifizieren, nannte sie in ihrer Klageschrift daher die Namen der Patientinnen und die jeweiligen Operationsdaten.1
Die Reaktion des Arbeitgebers: Die doppelte Kündigung
Die Reaktion des Klinikums auf die Klageerhebung ließ nicht lange auf sich warten und war drastisch. Wenige Wochen nach Zustellung der Klage sprach der Arbeitgeber eine außerordentliche, fristlose Kündigung aus, hilfsweise eine ordentliche Kündigung. Die Begründung: Die Nennung von Patientennamen im Gerichtsverfahren stelle eine gravierende Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht und der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) dar.
Doch damit nicht genug. Als die Ärztin sich in ihren Prozessschriftsätzen gegen die Vorwürfe verteidigte und dabei die Handlungen des Chefarztes als „bewusste Manipulation“ und dessen Verhalten als „diskreditierend und diskriminierend“ bezeichnete, folgte eine zweite Kündigungswelle. Der Arbeitgeber sprach erneut eine außerordentliche und eine hilfsweise ordentliche Kündigung aus. Diesmal lautete der Vorwurf, die Ärztin habe durch ihre Äußerungen im Prozess das Vertrauensverhältnis endgültig zerstört und ihren Vorgesetzten sowie den Arbeitgeber in unzulässiger Weise herabgewürdigt.1 Die Ärztin stand somit nicht nur vor der Herausforderung, ihre ursprünglichen Ansprüche durchzusetzen, sondern musste sich nun auch gegen insgesamt vier Kündigungen wehren.
III. Im Kreuzfeuer der Grundrechte: Wenn Datenschutz zur Waffe des Arbeitgebers wird
Der Fall landete vor dem Arbeitsgericht und schließlich in der Berufung vor dem Landesarbeitsgericht Niedersachsen. Im Zentrum der Auseinandersetzung stand die Kollision zweier hochrangiger Rechtsgüter: dem Schutz von Patientendaten und der ärztlichen Schweigepflicht auf der einen Seite und dem Recht der Ärztin auf effektiven Rechtsschutz auf der anderen.
Der Kündigungsvorwurf: Schwerwiegende Pflichtverletzung
Das Argument des Arbeitgebers war auf den ersten Blick stichhaltig und schwerwiegend. Die ärztliche Schweigepflicht, strafrechtlich in § 203 StGB verankert, und der Schutz von Gesundheitsdaten nach Artikel 9 der DSGVO gehören zu den fundamentalen Pflichten im Arztberuf. Ein Verstoß gegen diese „Kardinalpflichten“ ist „an sich“ geeignet, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen, da er den Kern des Vertrauensverhältnisses zwischen Arbeitgeber, Arzt und Patient berührt. Das Klinikum argumentierte, die Ärztin habe ohne Not und ohne Einwilligung Patientengeheimnisse gegenüber Dritten – dem Gericht und den gegnerischen Anwälten – offenbart.
Die Rechtfertigung: Das übergeordnete Recht auf effektiven Rechtsschutz
Das LAG Niedersachsen folgte dieser einseitigen Betrachtung jedoch nicht. Es stellte klar, dass selbst eine solch heilige Pflicht wie die Verschwiegenheit nicht absolut gilt. Das Gericht führte eine umfassende Güterabwägung durch und kam zu dem Ergebnis, dass die Offenlegung der Daten im konkreten Fall ausnahmsweise gerechtfertigt war. Die Begründung stützt sich auf das Recht auf effektiven Rechtsschutz und einen fairen Prozess, das sowohl im Grundgesetz (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) als auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 6 EMRK) verankert ist. Nach diesem sogenannten Justizgewährungsanspruch muss jeder Bürger die Möglichkeit haben, seine Rechte vor Gericht wirksam durchzusetzen.
Auch die DSGVO selbst sieht eine solche Ausnahme vor. Gemäß Artikel 9 Abs. 2 lit. f DSGVO ist die Verarbeitung sensibler Daten zulässig, wenn sie „zur Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen“ erforderlich ist. Die Offenlegung von Geheimnissen kann also gerechtfertigt sein, wenn sie das letzte Mittel zur Rechtsverfolgung darstellt und in der Abwägung der widerstreitenden Interessen verhältnismäßig ist.
Die Güterabwägung des Gerichts – Ein Exempel der Verhältnismäßigkeit
Das Gericht prüfte die Rechtfertigung anhand eines strengen zweistufigen Schemas: Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit.
- Erforderlichkeit: Hätte es ein milderes, gleich wirksames Mittel gegeben, um die Klageanträge zu konkretisieren? Das Klinikum argumentierte, die Nennung der internen Fallnummern hätte ausgereicht. Die Ärztin konnte jedoch schlüssig darlegen, dass diese Nummern auf den OP-Berichten selbst nicht vermerkt waren und somit für einen vollstreckbaren Titel, den ein Gerichtsvollzieher umsetzen muss, unbrauchbar gewesen wären. Das Gericht folgte dieser Argumentation, zumal das Klinikum als Arbeitgeber diesen Vortrag nicht substantiiert widerlegen konnte und selbst keine praktikable Alternative aufzeigte, wie eine eindeutige Zuordnung hätte erfolgen können. Die Nennung der Namen war somit erforderlich.
- Verhältnismäßigkeit: Im zweiten Schritt wog das Gericht die kollidierenden Interessen gegeneinander ab. Auf der einen Seite stand das hohe und unbestreitbar schützenswerte Geheimhaltungsinteresse der Patientinnen. Auf der anderen Seite stand das Interesse der Ärztin an der Berichtigung der Dokumente, das weit über eine bloße Formalie hinausging. Es berührte ihre berufliche Ehre, ihre Reputation und diente der Abwehr potenzieller Haftungsrisiken. Das Gericht gewichtete das Rechtsschutzinteresse der Ärztin im konkreten Fall höher. Dafür waren drei Aspekte ausschlaggebend:
- Die Ärztin hatte nachweislich versucht, den Konflikt intern und ohne Offenlegung zu lösen. Erst die Blockadehaltung des Arbeitgebers zwang sie zu diesem Schritt.
- Die Offenlegung fand im geschützten, nicht-öffentlichen Raum eines Gerichtsverfahrens statt, in dem alle Beteiligten (Richter, Anwälte) ebenfalls einer Verschwiegenheitspflicht unterliegen. Es handelte sich nicht um eine Preisgabe an die Allgemeinheit.
- Die korrekte Dokumentation, wer eine Operation durchgeführt hat, liegt letztlich auch im wohlverstandenen Interesse der Patientinnen selbst.
Das Verhalten des Arbeitgebers zeigt exemplarisch, wie Compliance-Regeln strategisch instrumentalisiert werden können. Anstatt den berechtigten Sorgen der Ärztin nachzugehen, nutzte das Klinikum den Datenschutz als Vorwand, um die Klage abzuwehren, und die durch die eigene Blockadehaltung provozierte Offenlegung als Waffe, um eine unbequeme Mitarbeiterin loszuwerden. Dieses widersprüchliche Verhalten entlarvte die angebliche Sorge um das Patientengeheimnis als taktisches Manöver, das das Gericht durchschaute.
Sonderfall Beweissicherung: Die fotografierten OP-Berichte
Ein weiterer Vorwurf des Arbeitgebers bezog sich darauf, dass die Ärztin Fotodokumentationen der OP-Berichte angefertigt hatte, um ihre Behauptungen zu belegen. Grundsätzlich stellt die eigenmächtige Aneignung oder Vervielfältigung von Betriebsunterlagen eine schwere Pflichtverletzung dar, die eine Kündigung rechtfertigen kann.
Doch auch hier sah das Gericht eine Rechtfertigung aufgrund der besonderen Umstände. Die Ärztin hatte bereits vor dem Prozess versucht, Auskunft über die sie betreffenden Daten und Berichte zu erhalten. Das Klinikum hatte dies unter Berufung auf den Datenschutz und die Schweigepflicht verweigert. Angesichts dieser Obstruktionshaltung durfte die Ärztin laut Gericht davon ausgehen, dass ein formeller prozessualer Antrag auf Vorlage der Unterlagen (ein sogenannter Editionsantrag) von vornherein aussichtslos gewesen wäre. Ihr Handeln war somit eine Reaktion auf die begründete Befürchtung, dass ihr sonst Beweismittel vorenthalten würden.
Die Haltung des Arbeitgebers erwies sich damit als Bumerang. Hätte das Klinikum kooperativ auf die internen Anfragen reagiert oder im Prozess die relevanten Unterlagen zur Verfügung gestellt, wären die Handlungen der Ärztin – die Namensnennung und das Fotografieren – nicht erforderlich und damit auch nicht gerechtfertigt gewesen. Die eigene Pflichtverletzung des Arbeitgebers, der seiner Pflicht zur Rücksichtnahme (§ 241 Abs. 2 BGB) nicht nachkam, schuf erst die Zwangslage, die das Verhalten der Arbeitnehmerin legitimierte.
IV. Mobbing von oben: Die Grenzen zulässiger Kritik im Kündigungsschutzprozess
Die zweite Kündigungswelle stützte der Arbeitgeber auf die scharfen Formulierungen der Ärztin in ihren Prozessschriftsätzen. Vorwürfe wie „bewusste Manipulation“, „Lüge“ und „diskreditierendes Verhalten“ gegenüber dem Chefarzt seien ehrverletzend, illoyal und würden das Vertrauensverhältnis unwiederbringlich zerstören.
Die Verteidigung der Meinungsfreiheit im Gerichtssaal
Auch hier folgte das LAG der Argumentation des Arbeitgebers nicht. Es stellte klar, dass Äußerungen, die im Rahmen eines Gerichtsverfahrens zur Verteidigung der eigenen Rechte getätigt werden, einen besonderen Schutz genießen. Dieser Schutz ergibt sich aus der Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) und dem Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 GG). Parteien dürfen zur Unterstreichung ihrer Rechtsposition starke, eindringliche und auch überspitzte Formulierungen verwenden. Ein Arbeitnehmer muss nicht befürchten, für einen robusten, aber sachbezogenen Prozessvortrag gekündigt zu werden.
Die Abgrenzung zur Schmähkritik
Die Grenze des Zulässigen ist erst dort überschritten, wo eine Äußerung zur reinen Schmähkritik wird. Eine Schmähung liegt nach ständiger Rechtsprechung aber nur dann vor, wenn nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern allein die persönliche Diffamierung und Herabwürdigung der Person im Vordergrund steht und jeder Sachbezug fehlt.
Im vorliegenden Fall sah das Gericht diese Grenze bei Weitem nicht als überschritten an. Die Vorwürfe der „bewussten Manipulation“ bezogen sich direkt auf den Streitgegenstand – die strittigen OP-Berichte. Sie waren somit keine grundlose Schmähung, sondern Teil der notwendigen rechtlichen Auseinandersetzung über den Sachverhalt.
Dieser Fall ist ein Paradebeispiel für das, was als „Bossing“ oder „Mobbing von oben“ bezeichnet wird. Die vorgeworfenen Handlungen des Vorgesetzten – die mutmaßliche Fälschung von Berichten, die zu einer beruflichen Herabwürdigung führt – zielen darauf ab, die berufliche Existenz und Reputation der untergebenen Mitarbeiterin zu untergraben. Das Urteil des LAG ist insofern von großer Bedeutung, als es Opfern solchen Verhaltens den Rücken stärkt. Es legitimiert, dass Betroffene solches Unrecht im Prozess klar und unmissverständlich als das benennen dürfen, was es aus ihrer Sicht ist, ohne eine „Straf-Kündigung“ für ihre deutlichen Worte fürchten zu müssen. Das Gericht verbietet dem Täter gewissermaßen, sich hinter dem Vorwurf der „Beleidigung“ zu verstecken, wenn er mit der Beschreibung seiner eigenen Taten konfrontiert wird.
Folgerichtig scheiterte auch der hilfsweise gestellte Auflösungsantrag des Arbeitgebers nach § 9 Kündigungsschutzgesetz. Mit einem solchen Antrag kann ein Arbeitgeber erreichen, dass das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung beendet wird, auch wenn die Kündigung unwirksam ist, sofern eine „den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit“ nicht mehr zu erwarten ist. Das Gericht stellte hier logisch und konsequent fest: Wenn die Handlungen der Arbeitnehmerin (die Offenlegung der Daten und der scharfe Prozessvortrag) rechtlich gerechtfertigt waren, können sie nicht gleichzeitig als Gründe herangezogen werden, die eine weitere Zusammenarbeit unzumutbar machen. Es wäre ein fundamentaler Widerspruch, wenn ein Gericht feststellen würde: „Ihr Verhalten war zwar rechtmäßig, aber weil Sie sich rechtmäßig verhalten haben, ist die Zusammenarbeit mit Ihnen nun unzumutbar.“
V. Strategien zur Selbstverteidigung: Praktische Lehren aus einem wegweisenden Urteil
Das Urteil des LAG Niedersachsen ist nicht nur juristisch aufschlussreich, sondern liefert auch wertvolle strategische Lehren für Arbeitnehmer, die sich in ähnlichen Konfliktsituationen befinden, insbesondere wenn sie es mit übermächtig erscheinenden Vorgesetzten zu tun haben.
1. Lückenlose und zeitnahe Dokumentation
Die oberste Priorität in jedem Arbeitsplatzkonflikt ist die lückenlose Dokumentation. Führen Sie ein detailliertes „Gedächtnisprotokoll“ über alle relevanten Vorfälle. Notieren Sie Datum, Uhrzeit, Ort, anwesende Personen, den genauen Gesprächsverlauf, möglichst wörtliche Zitate und auch Ihre eigenen Eindrücke und Gefühle. Diese Aufzeichnungen sind die unverzichtbare Grundlage für jede spätere rechtliche Auseinandersetzung und helfen, die eigenen Erinnerungen präzise zu halten.
2. Den internen Weg beschreiten (und dokumentieren)
Wie der Fall eindrücklich zeigt, ist es strategisch von entscheidender Bedeutung, zunächst formell und vor allem nachweisbar (z.B. per E-Mail mit Lesebestätigung, per Einschreiben oder durch persönliche Übergabe mit schriftlicher Bestätigung) eine interne Klärung zu versuchen. Wenden Sie sich an die Personalabteilung, den Betriebsrat oder die nächsthöhere Führungsebene. Dies zeigt einem Gericht später, dass Sie nicht auf eine Eskalation aus waren und die milderen Mittel ausgeschöpft haben, bevor Sie geklagt haben. Die Weigerung oder das Ignorieren durch den Arbeitgeber stärkt Ihre Position in der späteren Güterabwägung erheblich.
3. Beweissicherung – Die Gratwanderung
Dies ist der heikelste Punkt. Das Urteil zeigt, dass die eigenmächtige Sicherung von Beweismitteln – wie das Fotografieren von Unterlagen – in extremen Ausnahmefällen gerechtfertigt sein kann. Es muss jedoch eindringlich davor gewarnt werden, dass dies ein enormes Risiko darstellt und in 99% der Fälle eine fristlose Kündigung ohne Weiteres rechtfertigt. Die Lehre aus dem Fall ist nicht, dass dies generell erlaubt ist, sondern dass es eine schmale Ausnahme gibt, wenn der Arbeitgeber nachweislich und systematisch die Herausgabe von Informationen blockiert, auf die man zur Rechtsverfolgung angewiesen ist. Ein solcher Schritt darf
niemals ohne vorherige, eingehende anwaltliche Beratung und eine genaue Analyse der spezifischen Umstände erfolgen.
4. Frühzeitige anwaltliche Beratung einholen
Die Komplexität des Falles zeigt, dass ein Laie die notwendige Güterabwägung zwischen Datenschutz, Schweigepflicht und dem eigenen Recht auf einen fairen Prozess unmöglich selbst vornehmen kann. Ein auf Arbeitsrecht spezialisierter Anwalt kann die richtige Strategie festlegen, die Risiken der einzelnen Schritte bewerten und die professionelle Kommunikation mit dem Arbeitgeber übernehmen, um eine weitere Eskalation zu vermeiden oder den Prozess optimal vorzubereiten.
5. Im Prozess nicht einschüchtern lassen
Das Urteil stärkt Arbeitnehmern den Rücken, ihre Position in einem Gerichtsverfahren klar und deutlich zu vertreten. Solange die Vorwürfe einen nachvollziehbaren Sachbezug haben und nicht haltlos aus der Luft gegriffen sind, sind sie von der Meinungsfreiheit gedeckt. Man sollte sich nicht durch die Drohung mit einer weiteren Kündigung wegen „Illoyalität“ oder „Beleidigung“ mundtot machen lassen.
Die folgende Tabelle fasst die Abwehrstrategien und ihre Bewertung übersichtlich zusammen:
Strategie | Beschreibung | Chance (basierend auf dem Urteil) | Risiko (Allgemeiner Grundsatz) | Empfehlung |
Dokumentation | Führen eines detaillierten Gedächtnisprotokolls über alle Vorfälle. | Schafft eine solide Faktenbasis für eine spätere Klage. Unverzichtbar. | Keine direkten Risiken, kann aber zeitaufwendig sein. | Unbedingt erforderlich. Sofort beginnen. |
Interner Klärungsversuch | Formelle, schriftliche Aufforderung an den Arbeitgeber (HR, Geschäftsführung), das Problem zu lösen. | Zeigt dem Gericht, dass mildere Mittel ausgeschöpft wurden. Stärkt die eigene Position in der Güterabwägung. | Der Konflikt kann intern eskalieren. Der Arbeitgeber wird gewarnt. | Strategisch notwendig. Immer nachweisbar (schriftlich) durchführen. |
Eigenmächtige Beweissicherung | Fotografieren oder Kopieren von relevanten Unterlagen ohne Erlaubnis. | Im Ausnahmefall: Kann als gerechtfertigt angesehen werden, wenn der AG die Auskunft nachweislich blockiert. | Extrem hoch! Stellt in der Regel einen wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung dar. | Nur als ultima ratio und ausschließlich nach anwaltlicher Freigabe! |
Robuster Prozessvortrag | Klares Benennen von Missständen (z.B. „Manipulation“) im Gerichtsverfahren. | Geschützt durch Meinungsfreiheit, solange ein Sachbezug besteht. Notwendig zur Verteidigung. | Gefahr der Fehleinschätzung, was als unzulässige Schmähkritik gilt. | Notwendig, aber strategisch. Formulierungen mit Anwalt abstimmen. |
VI. Fazit: Ein Urteil, das Arbeitnehmern den Rücken stärkt
Das Urteil des LAG Niedersachsen ist eine bemerkenswerte und wichtige Klarstellung im Spannungsfeld zwischen den Compliance-Pflichten eines Arbeitnehmers und seinem fundamentalen Recht auf Selbstverteidigung. Es sendet zwei klare Botschaften aus:
Erstens: Das Recht auf einen fairen Prozess und effektiven Rechtsschutz ist ein hohes Gut. Es kann im Einzelfall sogar so schwer wiegen, dass es die Offenlegung von an sich streng geheimen Daten rechtfertigt – insbesondere dann, wenn der Arbeitgeber durch seine eigene Blockadehaltung keine andere Wahl lässt.
Zweitens: Arbeitgeber können ihre eigenen Compliance-Regeln wie den Datenschutz nicht als taktische Waffe missbrauchen, um kritische und unbequeme Mitarbeiter mundtot zu machen oder loszuwerden. Ein solches Verhalten ist durchschaubar und wird von den Gerichten nicht honoriert.
Für die Praxis ermutigt dieses Urteil Arbeitnehmer, sich auch gegen scheinbar übermächtige Vorgesetzte und strukturelles Unrecht zur Wehr zu setzen. Es zeigt Arbeitgebern gleichzeitig die Grenzen ihrer Macht auf und macht deutlich, welche Risiken mit einer unfairen und obstruktiven Haltung in einem Konfliktfall verbunden sind. Der Rechtsweg ist zweifellos oft steinig, langwierig und nervenaufreibend. Doch dieser Fall beweist eindrücklich, dass er mit Mut, einer sorgfältigen Strategie, lückenloser Dokumentation und spezialisierter anwaltlicher Unterstützung erfolgreich beschritten werden kann. Es ist ein Plädoyer dafür, für das eigene Recht einzustehen.
Rechtsanwalt Bernhard von Boehn