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Versicherungsrecht: BGH: Rückabwicklung einer Lebensversicherung (Rentenverwegen fehlerhafter Widerspruchsbelehrung

Leitsatz

Nach § 5a Abs. 2 Satz 1 VVG a.F. setzt der Beginn der Widerspruchsfrist die Überlassung des Versicherungsscheins, der Versicherungsbedingungen und der Verbraucherinformation nach § 10a VAG a.F. voraus. Wird durch die Benennung nur des Erhalts des Versicherungsscheins der unzutreffende Eindruck erweckt, der Fristbeginn werde allein daran geknüpft, ist die Widerspruchsbelehrung fehlerhaft (Fortführung der Senatsurteile vom 15. März 2023 – IV ZR 40/21VersR 2023, 631 Rn. 14 m.w.N. und vom 27. April 2016 – IV ZR 200/14, juris Rn. 11 m.w.N.; st. Rspr. Abgrenzung zu Senatsurteil vom 17. Januar 2024 – IV ZR 19/23, juris).

Der Hintergrund des Falls bezieht sich auf einen Rentenversicherungsvertrag, den der Kläger abgeschlossen hat. Am 16. September 2004 beantragte er bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten den Versicherungsvertrag, der auch eine Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung enthielt. Der Versicherungsbeginn war der 1. November 2004. Die Widerspruchsbelehrung in den übermittelten Unterlagen ist Gegenstand der gerichtlichen Auseinandersetzung. Es geht um die Frage, ob der Beginn der Widerspruchsfrist korrekt kommuniziert wurde.

Ein Anspruch auf bereicherungsrechtliche Rückabwicklung aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB steht dem Kläger zu.

Der BGH wörtlich ausgeführt:

Nach der Rechtsprechung des Senats kann zwar auch bei einer fehlenden oder fehlerhaften Widerspruchsbelehrung die Geltendmachung des Widerspruchsrechts ausnahmsweise Treu und Glauben widersprechen und damit unzulässig sein, wenn besonders gravierende Umstände des Einzelfalles vorliegen, die vom Tatrichter festzustellen sind. Dementsprechend hat der Senat bereits tatrichterliche Entscheidungen gebilligt, die in Ausnahmefällen mit Rücksicht auf besonders gravierende Umstände des Einzelfalles auch dem nicht oder nicht ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmer die Geltendmachung eines Bereicherungsanspruchs verwehrt haben (Senatsurteil vom 19. Juli 2023 – IV ZR 268/21VersR 2023, 1151 Rn. 9 m.w.N.; zur Veröffentlichung in BGHZ 238, 32 vorgesehen; st. Rspr.). Allgemein gültige Maßstäbe dazu, ob und unter welchen Voraussetzungen eine fehlerhafte Belehrung der Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Geltendmachung des Widerspruchsrechts entgegensteht, können nicht aufgestellt werden. Vielmehr obliegt die Anwendung der Grundsätze von Treu und Glauben im Einzelfall dem Tatrichter. Auch in Fällen eines fortbestehenden Widerspruchsrechts kann die Bewertung des Tatrichters in der Revisionsinstanz nur daraufhin überprüft werden, ob sie auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht, alle erheblichen Gesichtspunkte berücksichtigt und nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder von einem falschen Wertungsmaßstab ausgeht (Senatsurteile vom 19. Juli 2023 aaO Rn. 10 m.w.N.; vom 15. März 2023 – IV ZR 40/21VersR 2023, 631 Rn. 13 m.w.N.; st. Rspr.).

Nach diesen Grundsätzen hat das Berufungsgericht fehlerhaft eine Gesamtwürdigung vorgenommen. Insbesondere hat es die Grundsätze des europäischen Gerichtshofs nicht berücksichtigt: Nach den Grundsätzen, die der Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom 19. Dezember 2019 (Rust-Hackner u.a., C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, EU:C:2019:1123 = NJW 2020, 667) zur Fehlerhaftigkeit der Belehrung über das Vertragslösungsrecht aufgestellt hat und denen der Senat folgt (Urteil vom 15. Februar 2023 – IV ZR 353/21,BGHZ 236, 163 Rn. 14), wäre es unverhältnismäßig, es dem Versicherungsnehmer zu ermöglichen, sich von den Verpflichtungen aus einem in gutem Glauben geschlossenen Vertrag zu lösen, wenn ihm durch die fehlerhafte Belehrung nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktritts- bzw. Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben (EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 aaO Rn. 79; Senatsurteil vom 15. Februar 2023 aaO Rn. 14). Weitere Voraussetzungen müssen daneben für einen Ausschluss des Widerspruchsrechts nicht erfüllt sein.

Das Verfahren wurde zur erneuten Verhandlung an das Berufungsgericht zurück verwiesen.

BGH, Urteil vom 21. Februar 2024 – IV ZR 297/22 –