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Versicherungsrecht: Verkehrsrecht: OLG Hamm: Leistungsfreiheit in der Kaskoversicherung bei verspäteter Schadenmeldung

Leitsatz

Vorsätzliche Verletzung der Obliegenheit zur Anzeige des Versicherungsfalls bejaht bei Anzeige erst (knapp) sechs Monate nach einem Verkehrsunfall und Kenntnis des Versicherungsnehmers von der Anzeigeobliegenheit im Grundsatz.

 

A.
Problemstellung
Das OLG Hamm hatte über die Leistungsfreiheit des Kaskoversicherers zu entscheiden, weil der Versicherungsnehmer den Unfallschaden erst nach sechs Monaten anzeigte, da er hoffte, seinen Schaden gegen einen Dritten geltend machen zu können.
B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Für das klägerische Fahrzeug bestand bei der Beklagten eine Vollkasko-Versicherung. Nach E.1.1 der geltenden AKB war vereinbart, dass jedes Schadenereignis innerhalb einer Woche bei der Beklagten zu melden ist. Im Falle einer vorsätzlichen Verletzung dieser Pflicht besteht nach E.6.1 Leistungsfreiheit.
Am 16.06.2016 meldete der Kläger einen Schadenfall vom 23.12.2015, den er am 24.12.2015 gegen 1:00 Uhr bei der Polizei gemeldet hatte. Der Kläger behauptet, dass er sein Fahrzeug am 23.12.2015 gegen 19:45 Uhr abgestellt habe. Bei seiner Rückkehr gegen 21:00 Uhr habe er einen Streifschaden festgestellt. Er habe einen Zettel eines N. vorgefunden, auf dem dieser den Schaden eingeräumt und seine Rufnummer angegeben habe. Das Fahrzeug wurde im Januar 2015 repariert. Der N. sei allerdings nicht auffindbar. Die Beklagte lehnte die Regulierung des Schadens ab, da das Schadensbild nicht plausibel und das Gutachten unbrauchbar sei. Ferner bestehe Leistungsfreiheit wegen Verletzung einer vertraglichen Obliegenheit, weil der Schaden erst ein halbes Jahr später gemeldet wurde.
Das Landgericht hatte die dagegen gerichtete Klage abgewiesen.
Das OLG Hamm hat die Berufung zurückgewiesen.
Der Kläger habe keinen Anspruch auf Entschädigung des Unfallschadens, weil die Beklagte gemäß § 28 Abs. 2 Satz 1 VVG i.V.m. E.6.1 Satz 1, E.1.1 Satz 1 AKB wegen vorsätzlicher Obliegenheitsverletzung leistungsfrei geworden sei. Der Kläger habe gegen die Obliegenheit zur Schadenmeldung innerhalb einer Woche verstoßen. Er habe den Unfallschaden erst sechs Monate nach dem Schadenereignis bei der Beklagten angezeigt. Dabei habe der Kläger im Hinblick auf die Überschreitung der Frist zur Schadenanzeige vorsätzlich i.S.d. § 28 Abs. 2 Satz 1 VVG, Ziffer E.6.1. Satz 1 AKB gehandelt. Eine vorsätzliche Verletzung der Anzeigepflicht setze voraus, dass der Versicherungsnehmer die Verhaltensnorm, aus der die Obliegenheit folge, positiv kenne. Insoweit genüge bedingter Vorsatz, der nach allgemeinen Regeln vorliege, wenn der Versicherungsnehmer die Obliegenheitsverletzung für möglich halte und sie billigend in Kauf nehme, also nicht ernsthaft darauf vertraue, dass der Erfolg ausbleiben werde. Zwar spreche keine Vermutung für eine vorsätzliche Verletzung der Obliegenheit, vielmehr habe der Versicherer diese gemäß § 28 Abs. 2 Satz 1 VVG, E.6.1 Satz 1 AKB zu beweisen. Dass der Kläger die konkrete Regelung der AKB zu oder nach dem Schadenfall zur Kenntnis genommen hatte, lasse sich nicht feststellen. Er stelle aber nicht in Abrede, dass er seine Obliegenheit zur Schadenmeldung als solche gekannt habe. Damit sei ihm auch bewusst gewesen, dass er den Schaden zumindest zeitnah, insbesondere vor der Reparatur des Fahrzeugs zu melden hatte. Denn ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer wie der Kläger erkenne, dass die Obliegenheit zur Schadenmeldung dem Versicherer eine möglichst unmittelbare Überprüfung seiner Leistungspflicht ermöglichen soll, die nach längerem Zeitablauf und insbesondere bei einer Beseitigung der geltend gemachten Unfallschäden zumindest fraglich sein könne. Die Obliegenheit zur Wahrung der Wochenfrist enthalte so als minus die Verpflichtung zur zeitnahen Schadenanzeige, die allgemein bekannt sei.
Der Kläger habe den Unfall aber erst lange nach der Reparatur angezeigt. Die vorgelegte Reparaturbestätigung datiere vom 20.01.2016. Schon zum Zeitpunkt der Reparatur habe der Kläger zumindest damit rechnen müssen, dass die Beklagte nur noch eingeschränkte Möglichkeit haben würde, selber Feststellungen zum Schaden und zu ihrer Leistungspflicht zu treffen. Ebenso sei dem Kläger mit dem Abwarten des gegen ihn über vier Monate geführten Ermittlungsverfahrens bewusst gewesen, dass die Beklagte ohne Kenntnis vom Schadenfall keine Möglichkeit hatte, zeitnah eigene Ermittlungen zu ihrer Leistungspflicht zu treffen. Dies genüge für ein bedingt vorsätzliches Verhalten im Hinblick auf die Obliegenheit zur zeitnahen Schadenanzeige.
Das Erkennen der Fristverletzung sei nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Kläger zunächst davon ausgegangen sei, er könne Schadenersatzansprüche gegen einen unbekannten Dritten durchsetzen. Der Geschädigte handele auch dann vorsätzlich, wenn er die allgemein bekannte Frist zur zeitnahen Schadenmeldung in der Annahme verstreichen lasse, er sei auf den Anspruch gegen den Versicherer nicht angewiesen, weil er sich anderweitig schadlos halten könne. Entgegen der vom Kläger vertretenen Ansicht konnte er sich angesichts der Mandatierung seiner früheren Anwälte insoweit nicht darauf verlassen, dass seine Rechte gegenüber der Beklagten gewahrt würden, insbesondere, dass seiner Obliegenheit zur zeitnahen Schadenanzeige Genüge getan werde, denn er hatte seine Anwälte ursprünglich nur mit der Verteidigung in dem gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren mandatiert. Erst nach der Einstellung des Ermittlungsverfahrens erteilte der Kläger eine Vollmacht zur Geltendmachung des Vollkaskoschadens, die eine entsprechende anwaltliche Schadenanzeige ermöglichte. Diese Vorgehensweise spreche dafür, dass der Kläger im Hinblick auf den schon vor der Reparatur des Fahrzeugs gegen ihn erhobenen Verdacht einer Vortäuschung ganz bewusst davon abgesehen habe, den Vollkaskoschaden sofort bei der Beklagten anzuzeigen. Damit sei von einer vorsätzlichen Anzeigepflichtverletzung auszugehen.
Die Beklagte sei nicht deshalb gemäß § 28 Abs. 3 Satz 1 VVG leistungspflichtig, weil die Anzeigepflichtverletzung weder für den Eintritt oder die Feststellung des Versicherungsfalls noch für die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht des Versicherers ursächlich gewesen sei. Der insoweit beweispflichtige Kläger könne nicht nachweisen, dass die verzögerte Anzeige nicht ursächlich dafür sei, dass die Beklagte keine Feststellungen zum Versicherungsfall und zu ihrer Leistungspflicht mehr treffen könne. Vielmehr habe der Kläger mit der vor der Schadenanzeige durchgeführten Reparatur der Unfallschäden jegliche Feststellungen der Beklagten zu Ursache und Ausmaß des Unfallschadens vereitelt. Dass die Beklagte vor der Reparatur keine weiteren Feststellungen hätte treffen können als anhand des vorgelegten Sachverständigengutachtens, sei nicht anzunehmen. Der vom Kläger beauftragte Sachverständige habe keine Feststellungen zur Plausibilität und Kompatibilität des Schadens und der Schadensschilderung getroffen. Es lasse sich schon angesichts der polizeilichen Ermittlungen nicht ausschließen, dass die Beklagte durch weitergehende Untersuchungen Erkenntnisse zur Schadenursache hätte gewinnen können, die ihre Leistungspflicht dem Grunde oder der Höhe nach beschränkt hätte. Damit sei der Kausalitätsgegenbeweis nicht gelungen. Ein Entschädigungsanspruch bestehe nicht.
C.
Kontext der Entscheidung
Nach dem für alle Versicherungsarten der Kraftfahrtversicherung geltenden E.1.1 der AKB 2015 (Musterbedingungen des GDV) ist der Versicherungsnehmer verpflichtet, dem Versicherer jedes Schadenereignis, das zu einer Leistung durch den Versicherer führen kann, innerhalb einer Woche anzuzeigen. Der Kläger hat den Schaden vorliegend aber erst nach rund sechs Monaten angezeigt. Die Motive, warum der Versicherungsnehmer die Schadenanzeige unterlässt, sind im Ergebnis unbedeutend. Hier trug der Kläger vor, den Verursacher in Anspruch nehmen zu wollen. Dies ist unbeachtlich, denn die vertragliche Verpflichtung zur Meldung des Schadens besteht unabhängig davon, ob die Leistung des Versicherers später tatsächlich in Anspruch genommen werden soll. Durch die Anzeigeobliegenheit wird gewährleistet, dass dem Versicherer bei einer etwaigen Inanspruchnahme eigene Ermittlungen ermöglicht werden (vgl. OLG Karlsruhe, Urt. v. 18.02.2010 – 12 U 175/09).
Eine vorsätzliche Verletzung der Anzeigeobliegenheit setzt voraus, dass der Versicherungsnehmer die Verhaltensnorm positiv kennt. Insoweit ist bedingter Vorsatz ausreichend. Dieser liegt vor, wenn er die Verletzung der Obliegenheit für möglich hält und sie billigend in Kauf nimmt (vgl. BGH, Urt. v. 03.10.1979 – IV ZR 45/78). Auch ohne genaue Kenntnis des Wortlautes der dem Vertrag zugrunde liegenden Versicherungsbedingungen und versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse kann es als allgemein bekannt angesehen werden, dass dem Versicherer der Eintritt eines Schadens kurzfristig zu melden ist (vgl. z.B. OLG Hamm, Urt. v. 24.11.2004 – 20 U 157/04 und OLG Frankfurt, Urt. v. 01.11.1996 – 24 U 309/94). Unabhängig davon hat der Kläger diese Kenntnis hier auch konkret dokumentiert. Er trug nämlich vor, auf die Schadenanzeige verzichtet zu haben, weil er davon ausging den Schädiger in Anspruch nehmen zu können. Damit handelte der Kläger vorsätzlich. Steht eine Obliegenheitsverletzung objektiv fest, liegt die Beweislast für nicht vorsätzliches Handeln beim Versicherungsnehmer (vgl. OLG Naumburg, Urt. v. 29.04.2004 – 4 U 167/03).
Nach § 28 Abs. 3 VVG bleibt der Versicherer allerdings zur Leistung verpflichtet, soweit die Obliegenheitsverletzung weder für den Eintritt oder die Feststellung des Versicherungsfalles noch für die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht ursächlich ist. Hier ließ der Kläger sein Fahrzeug aber schon kurz nach dem Unfall reparieren, so dass es dem Versicherer, als der Schaden Monate später gemeldet wurde, nicht mehr möglich war, eigene Ermittlungen zum Schaden oder dessen Höhe durchzuführen. Hinzu kommt, dass das vom Versicherungsnehmer selbst eingeholte Schadengutachten objektiv erhebliche Fehler aufwies, etwa durch falsche Angaben zur Laufleistung des Fahrzeugs und der Anzahl der Vorbesitzer. Der Kausalitätsgegenbeweis i.S.d. § 28 Abs. 3 VVG konnte dementsprechend vom Versicherungsnehmer nicht geführt werden.
D.
Auswirkungen für die Praxis
Es ist allgemein bekannt, dass dem Versicherer ein Schadenfall umgehend zu melden ist. Nach E.1.1 AKB ist ein Schaden in der Fahrzeugversicherung innerhalb einer Woche zu melden. Die vorsätzliche Verletzung der Obliegenheit zur Anzeige des Schadens führt zur Leistungsfreiheit. Nach § 28 Abs. 3 VVG bleibt die Leistungspflicht allerdings bestehen, wenn der Versicherungsnehmer den Kausalitätsgegenbeweis führt, also nachweist, dass die Obliegenheitsverletzung weder für den Eintritt oder die Feststellung des Schadenfalles noch für die Feststellung oder des Umfangs des Schadens relevant ist. Dieser Gegenbeweis ist aber ausgeschlossen, wenn der Versicherungsnehmer arglistig gehandelt hat. Dies setzt voraus, dass der Versicherungsnehmer einen gegen die Interessen des Versicherers gerichteten Zweck verfolgt und weiß, dass sein Verhalten die Schadenregulierung möglicherweise beeinflussen kann. Eine Bereicherungsabsicht ist nicht erforderlich. Es reicht aus, dass der Versicherungsnehmer Schwierigkeiten bei der Durchsetzung berechtigter Ansprüche ausräumen will und weiß, dass sein Verhalten den Versicherer bei der Schadenregulierung möglicherweise beeinflussen kann.
Anmerkung zu: OLG Hamm 20. Zivilsenat, Beschluss vom 21.06.2017 – 20 U 42/17
Autor: Rainer Wenker, Ass. jur.
Erscheinungsdatum: 15.11.2017

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