Leitsätze
1. Der zuständige Träger der öffentlichen Jugendhilfe verletzt seine Amtspflicht, wenn er einem gemäß § 24 Abs. 2 SGB VIII (in der ab dem 01.08.2013 geltenden Fassung) anspruchsberechtigten Kind trotz rechtzeitiger Anmeldung des Bedarfs keinen Betreuungsplatz zur Verfügung stellt. Für das Verschulden des Amtsträgers kommt dem Geschädigten ein Beweis des ersten Anscheins zugute.
2. Die mit dem Anspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII korrespondierende Amtspflicht bezweckt auch den Schutz der Interessen der personensorgeberechtigten Eltern.
3. In den Schutzbereich der verletzten Amtspflicht fällt auch der Verdienstausfallschaden, den Eltern dadurch erleiden, dass ihr Kind entgegen § 24 Abs. 2 SGB VIII keinen Betreuungsplatz erhält.
- A.
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ProblemstellungVerschiedene Gerichte haben sich mit den finanziellen Folgen (Ersatzansprüchen) für die Fälle, dass einem Kind der gesetzlich garantierte Betreuungsplatz nicht zur Verfügung gestellt wurde, schon befasst. Neben Fragen, ob nur das Kind oder auch Eltern (Großeltern) Ansprüche geltend machen können und ob die sozialrechtlichen Ansprüche abschließend sind, rückte in letzter Zeit die Frage in den Mittelpunkt, ob und ggf. in welchem Umfang Verdienstausfallschaden und entgangener Gewinn von den Eltern bei eigener Kindesbetreuung aus Amtshaftungsgesichtspunkten wegen Verletzung des gesetzgeberischen Befehls zur Stellung einer ausreichenden Anzahl von Betreuungsplätzen geltend gemacht werden kann.
- B.
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Inhalt und Gegenstand der EntscheidungDie Klägerin macht Verdienstausfallschaden (4.463,12 Euro) geltend, nachdem mehrfache Bitten und Anträge (Bedarfsanmeldung) auf Stellung eines gesetzlich garantierten Betreuungsplatzes für ihre damals einjährige Tochter erfolglos waren und sie deshalb erst zu einem späteren Zeitpunkt ihre Erwerbstätigkeit wieder aufnehmen konnte.Das Landgericht hat den geltend gemachten Amtshaftungsanspruch zugesprochen. Das Berufungsgericht (OLG Dresden) hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass die beklagte Kommune zwar ihre Amtspflicht (aus § 24 Abs. 2 SGB VIII) verletzt habe. Ausweislich des Wortlautes sei allerdings nur das Kind normgeschützt und nicht die betreuenden Eltern.Der BGH hat diese Entscheidung aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zur Klärung des Verschuldens im Rahmen von § 839 BGB zurückverwiesen. Unter Ablehnung denkbarer Ansprüche aus einem öffentlich-rechtlichen Schuldverhältnis, aus Geschäftsführung ohne Auftrag sowie aus § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII (analog) – Aufwendungsersatz – führt der BGH weiter zur Amtspflichtverletzung aus. Danach gewährt § 24 Abs. 2 SGB VIII (bei entsprechender Bedarfsanmeldung) dem Kind einen unbedingten, „garantierten“ Anspruch auf einen Betreuungsplatz. Diese aus Gesetz folgende Gewährleistungspflicht (Rn. 17 f.) ist nicht durch Kapazitäts- oder Haushaltsrestriktionen beschränkt. Der Jugendhilfeträger hat die Erfüllung der gesetzgeberischen Vorgabe in jedem Fall sicherzustellen.Den Schwerpunkt der Entscheidung bilden die intensiv begründeten und überzeugenden Ausführungen zum Schutzzweck und -bereich der verletzten Norm (Amtspflicht). Dabei differenziert der BGH zu Recht zwischen dem persönlichen Schutzbereich, d.h. ob Kind oder auch die Eltern normgeschützt sind, und dem sachlichen Schutzzweck, d.h. ob der Erwerbsschaden im vorliegenden Fall ein ersatzfähiger Schaden ist. Beide Fragen bejaht das Revisionsgericht nach sorgfältiger Analyse von Wortlaut und vor allem von Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung. Die aus § 24 Abs. 2 SGB VIII folgende Amtspflicht, dem Kind bei rechtzeitiger Bedarfsanmeldung einen Betreuungsplatz zur Verfügung zu stellen, schützt auch die personensorgeberechtigten Eltern. Dies folgert der BGH aus der Absicht des historischen Gesetzgebers, neben der Förderung des Kindeswohls auch die Entlastung der Eltern (bzgl. Erwerbstätigkeit) sicherzustellen (Rn. 26). Mit systematischen und teleologischen Argumenten wird dieses Ergebnis weiter abgesichert (Rn. 27 ff.). Da nach dem gefunden Ergebnis das Gesetz und die damit korrespondierende Amtspflicht gerade (auch) die Aufnahme oder Weiterführung einer Erwerbstätigkeit der Eltern fördern soll, wird der vorliegend geltend gemachte Verdienstausfallschaden auch vom sachlichen Schutzbereich der verletzten Norm (Amtspflicht) umfasst (Rn. 33 ff.).Da ausreichende Feststellungen zum Verschulden im Rahmen von § 839 BGB nicht getroffen wurden, hat der BGH die Sache zurückverwiesen und darauf hingewiesen, dass für die Geschädigte der Beweis des ersten Anscheins bezüglich eines Verschuldens des Amtsträgers eingreift, da der unbedingte Gewährleistungsanspruch (vgl. oben) verletzt worden sei, wobei finanzielle Engpässe (der Kommunen) nicht schuldrelevant seien (Rn. 41).